2.2 Kontextbezug und freie Assoziation 11)

 

Das Phänomen der Bistabilität, das Symmetriebrüche (Kipp-Punkte) hervorruft, lässt sich spielerisch mittels des Eingangsbeispiels Vase / Zwei Gesichter demonstrieren:

Versuche, beide Wahrnehmungen gleichzeitig zu betrachten und erlebe den Kipp-Punkt!

Kipp-Punkte begegnen uns in der synergetischen Arbeit immer wieder. Sie sind das Ziel synergetischer Transformationsarbeit. Es sind die Momente, wenn im Zuge intensiver, gefühlstiefer Prozessarbeit bestehende Innenwelt-Bilder kippen und etwa der Lehrer den Schüler nicht mehr vor der versammelten Klasse bloßstellt oder Papa den Jungen nicht mehr im Schuppen verprügelt, wenn stattdessen das Gehirn selbstorganisatorisch neue Erfahrungen mit dem Lehrer, mit dem Papa präsentiert, die sich qualitativ auf einer höheren Ordnungsebene befinden (vielleicht lobt der Lehrer den Jungen nun und Papa nimmt ihn in den Arm etc.).

Immer sind Wahrnehmungen kontextabhängig. Immer ist die Wahrnehmung vom Lehrer, vom Papa abhängig von allen Erfahrungen, die wir mit ihnen gemacht haben – auch nach der Transformationsarbeit, da das Gehirn nun auch die neue Erfahrungen integriert (beispielsweise wie es ist, sich zur Wehr zu setzen oder wie es ist, wenn der Lehrer oder Papa sich entschuldigt). 12)

Die Kontextabhängigkeit stellt darüber hinaus den roten Faden dar, der die Bezüge eines Themas zu den damit in Verbindung stehenden Lebenssituationen aufzeigt. Der Kontext zeigt auf, wo man herkommt. Ein Phänomen, das 'Hysterese' 13) genannt wird:

 


Betrachten wir die Bilder von links nach rechts so ist ein Männergesicht zu erkennen, das erst nach der fünften Abbildung allmählich in das Bild einer Frau umkippt. Geht die Betrachtung umgekehrt von rechts nach links, so überwiegt in der Regel zunächst die Wahrnehmung Frau, die erst relativ spät in die eines Männergesichtes umschlägt. Bei welchem Bild dieser Umschlag erfolgt, hängt vom Betrachter und dessen Wahrnehmungsgewohnheiten, Prägungen etc. ab; laut HAKEN kommt es bei einigen Männern vor, dass der Wechsel in ein Männergesicht nun überhaupt nicht mehr auftritt!

 

Der gleiche Effekt findet sich auch in dieser Abbildung. Von oben her lesen wir die Wörter Chaos und können erst weiter unten das Wort Order erkennen. In umgekehrter Richtung sehen wir lange das Wort Order und erst am Schluss das Wort Chaos.

 

Der Kontext, der die Wahrnehmung maßgeblich bestimmt, resultiert in den beiden Fällen zunächst aus der Ausgangsposition, von der aus die Betrachtung begonnen wird. Dass der Umschlag der Wahrnehmung jedoch je nach Betrachter unterschiedlich erfolgen kann (und bei einigen Männern, wenn sie sich erst einmal auf ein Frauenbild fixiert haben, unter Umständen gar nicht mehr erfolgt), deutet jedoch auf eine tiefere Kontextbezogenheit der Wahrnehmung hin, die sich aus ganz unterschiedlichen Quellen speisen kann und etwa biologisch-geschlechtlich oder gesellschaftlich-kulturell bestimmt sein kann, auf Erziehung zurückgeht oder sich auf (Lebens-)Erfahrungswerte gründet.

Wir glauben, was wir sehen und wir sehen, was wir glauben.

 

Um Aussagen über die Aussagen von Menschen machen zu können, ist es nötig, zu schauen, in welchem Kontext sie stehen, das heißt, welche Bilder, Erfahrungen und Muster sich in der Innenwelt zu einem Thema finden. In der synergetischen Aufdeckungsarbeit geht es somit nicht darum, welche Personengruppen unter welchen Bedingungen was sehen oder um optische Gesetzmäßigkeiten, sondern es geht darum, wie etwas von einer Person interpretiert wird, da dies Rückschlüsse auf die Person zuläßt. Wahrnehmung ist demnach abhängig davon, welche Idee jemand von einem Bild hat, denn er projiziert sein Sehen in das Bild hinein.

Die Innenwelt des Menschen ist voll von symbolischen Figuren und symbolischen Orten und sie ist angefüllt mit allen Szenen aus dem Leben, die je nach ihrer Relevanz für das jeweilige Thema assoziativ vom Unbewussten präsentiert werden – Szenen aus diesem Leben und Situationen aus anderen Leben, mögen sie tatsächlich erlebt worden sein oder symbolisch für ein Problem im Jetzt stehen. Wesentlich ist dabei, wie etwas wahrgenommen wird. Empfindet der Klient eine Symbolfigur als eine Bedrohung oder steht sie als Helfer zur Verfügung? Aufschluss darüber gibt das damit verknüpfte Gefühl des Klienten, nicht jedoch das äußere Erscheinungsbild einer Szene oder einer Figur und auch nicht die Interpretation des Begleiters, der ja seinerseits durch die Brille seiner Wahrnehmungen in die Welt schaut.

Wie berührt ist er von den Themen des Klienten vor ihm? Wie sehr handelt es sich dabei um seine Themen und kann er den Unterschied noch wahrnehmen? Innere Aufgeräumtheit und die Bearbeitung der eigenen Themen, die nahezu jeder von uns in sich trägt – Versorgungsdefizite in der Kindheit, erlittene Gewalt, Verlustängste, überhaupt Ängste aller Art und vieles mehr –, sind Voraussetzung für die methodische Sauberkeit bei der Begleitung synergetischer Innenweltreisen. Freilich ist in den meisten Fällen dieser Klärungsprozess nicht innerhalb kurzer Zeit zu leisten, ist es sinnvoll, bereits bei der Ausbildung mit der eigenen Klärung zu beginnen.

Kipp-Figuren sind Abbildungen, die zu spontanen Gestalt- bzw. Wahrnehmungswechseln führen können, ein Phänomen, das 'multistabile Wahrnehmung' genannt wird und das bereits in der Antike bekannt war und dort Ausdruck in zahlreichen Mosaiken fand. In moderner Zeit haben sich vor allem M. C. Escher und Salvador Dali mit multistabilen Wahrnehmungen beschäftigt. Für die synergetische Ausbildung beziehen sie vor allem daraus ihren Wert, dass sie visuell ein Grundcharakteristikum synergetischer Innenweltenreisen veranschaulichen: Unsere Sicht der Welt stellt nur eine von sehr vielen möglichen dar und sagt vor allem etwas über uns selbst aus.

Unsere Interpretationen sind perspektivenabhängig und bewirken häufig, dass wir nur ein Ding sehen, wo viele Dinge enthalten sind; dies ist insbesondere bei der Begleitung von Sessions zu bedenken und findet seinen Niederschlag im Basishandwerkszeug, etwa hinsichtlich der zu stellenden Y-Fragen (vgl. Basishandwerkszeug). So mag der Eingangs-Symbolraum zu einem Thema zunächst schlicht erscheinen, etwa weil sich nur ein Hocker in einem sonst leeren Raum befindet.

Dennoch stellt dann gerade dies den ersten Ausdruck des Themas dar, der seinerseits komplex vernetzt ist mit noch nicht aufgedeckten Bezügen zu weiteren symbolischen Gegenständen oder Figuren sowie zu biographischen Erlebnissen oder familiären Bezugspersonen, deren Relevanz erst im Verlauf der Sitzung offenbar wird. Rückblickend erkennt man schließlich die stimmige Deutlichkeit eines zunächst einfach anmutenden Eingangsbildes und sieht – ganz ähnlich wie beim Kippbild – nun auch das, was man vorher nicht sah.

Um neue Erfahrungen zu machen, kann es sinnvoll sein, die Perspektive zu verändern, um Neues in etwas Bekanntem zu sehen.
(Drehen Sie das Bild um 90 grad nach links: Der Frosch verwandelt sich in ein Pferd)


Zudem veranschaulichen KippFiguren den Kontextbezug komplex vernetzter und assoziativ aufgedeckter Innenweltbilder zu bestimmten Themen. Vordergründig mag sich eine Sitzung – oder die Betrachtung einer Zeichnung von M. C. Escher – einer logischen Ordnung entziehen, doch erhält sie ihre relative Sinnhaftigkeit mit dem Blick auf das Detail.

In Eschers Zeichnung herrschen durchaus die uns vertrauten logischen Bezüge vor – ein Mensch kommt die Treppe herab, neben ihm befindet sich eine Tür – ganz ähnlich den Szenen aus den Kindertagen, die selbstähnlichen zu einem bestimmten Thema synergetisch aufgedeckt wurden und bearbeitet werden können. In sich folgen die unterschiedlichen Situationen den gewohnten logischen Denkmustern. Das, was "unlogisch" anmutet, ist gerade ihr Bezug zum Gesamtkontext, der Eschers Bild so interessant erscheinen lässt und zur längeren Betrachtung verführt – und der Klienten während einer synergetischen Sitzung immer wieder in Erstaunen versetzt, wenn offenbar wird, dass gerade diese Person/Szene/Situation zu jener Thematik/Problematik/Krankheit geführt hat.

Faktoren stehen untereinander in Wechselbeziehung; gemeinsam bilden sie Kontexte, die ihrerseits miteinander verschränkt sind und die die ungeheure Komplexität neuronaler Innenwelten ausmachen. Das Zusammenwirken einzelner Elemente in komplexen Systemen und Komplexität überhaupt fand lange kein wissenschaftliches Interesse, da das bislang vorherrschende mechanistische Paradigma – das in der Tendenz auf Vereinfachung zielt – nicht geeignet war, komplexe Phänomene zu beschreiben und es somit bis vor einigen Jahrzehnten an einer Beschreibungssprache mangelte. Mit der Öffnung der Wahrnehmung(!) hinsichtlich komplexer Phänomene ging auch eine Abkehr vom puren mechanistischen Weltbild sowie eine Öffnung hinsichtlich ganzheitlicher Betrachtungsweisen und Problemlösungsstrategien einher.

 

 

11 Der Begriff der 'Assoziation' dient zur Erklärung des Phänomens, dass zwei (oder mehr) ursprünglich isolierte psychische Inhalte (wie z. B. Wahrnehmungen, Gefühle oder Ideen), auch als Assoziationsglieder bezeichnet, eine so enge Verbindung eingehen, dass das Aufrufen eines Assoziationsgliedes das Auftreten eines oder mehrerer weiterer Assoziationsglieder nach sich zieht oder zumindest begünstigt.

12 Die Transformationsarbeit behandelt Kapitel 6 Evolutionsbonik.

13 'Hysterese' [gr.] = Das Bestehenbleiben einer Wirkung, obwohl die Kraft, die sie hervorgerufen hat, sich bereits verändert hat; im Sinne einer Trägheit.