17. Geschlechtsspezifische Antriebe im Außen und Innen
17. 1 Kulturelle Dimension der
Geschlechtlichkeit
Wie kompetent sind wir, im Leben den richtigen Partner zu finden? Was ist ein
richtiger Partner? Was ist richtig für mich? Und welche Erfahrungen suche
ich (unbewusst) im Leben und richte (unbewusst) meine Partnerwahl danach aus?
Habe ich überhaupt einen Partner oder dient mir der Mensch, mit dem ich
zusammenlebe, doch vor-nehmlich als Projektionsfläche meiner unerfüllten
Wünsche – als Fixpunkt, der mir Halt gibt, mich festhält, mich
einengt, weil ich seit Kindheit an nichts darüber hinaus von meinem Leben
erwarte? Seine Missachtungen, sein Wegsehen, sein Fremdgehen sind für mich
normal – es war immer so. Warum sollte ich etwas daran ändern? Wie
sehr ähnelt mein Partner meinen Eltern? Und wie sehr ähnelt mein Schicksal
den Schicksalen meiner Vorfahren.
Partnerschaft, Geschlechtlichkeit, Sexualität sowie elterliche und kulturelle
Prägungen in ihren morphischen Feldern (vgl. Synergetik Basic 3/4) 58)
stehen in einem engen Verhältnis zueinander – in der Innenwelt finden
sich diese Aspekte u. a. gebündelt in den Symbolbildern des Inneren Mannes
und der Inneren Frau. Diesen Bildern wohnt nicht nur ein individuelles Moment
inne – resultierend aus den jeweiligen Erfahrungen im eigenen Leben und
im Leben der Familie –, sondern auch ein generelles: sie sind auch ein
Produkt des uns umgebenden gesellschaftlich-kulturellen Kontextes einschließlich
seiner historischen Entwicklungen.
Geschlechtlichkeit ist verbunden mit der geschlechtstypischen Erlebniswelt des
Menschen und ihren spezifischen biologischen, psychischen und kulturellen Bedingungen.
Das Menschsein ist an eine biologisch (genetisch) bestimmte Geschlechtszugehörigkeit
gebunden. Die Geschlechtlichkeit hat eine biologische Veranlagung, ist aber
kulturell überformt und daher zeitbedingt und relativ. Der mit der Geschlechtszugehörigkeit
verbundene spezifische Zugang zur Natur bleibt daher nicht auf biologische Gegebenheiten
beschränkt, sondern wirkt sich auch auf der sozialen und seelischen Ebene
aus und führt dort zu Unterschieden des Erlebens, Verarbeitens und Reagierens
analog der jeweiligen Persönlichkeitsstruktur und der gemachten Erfahrungen
im Leben. 59)
Hinter allen Unterschieden zwischen Mann und Frau liegt eine Gemeinsamkeit.
Jeder Mann hat in sich auch einen Anteil an Weiblichkeit, jede Frau auch einen
an Männlichkeit. Andererseits wird der Geschlechtsunterschied betont und
vergrößert durch die Vorstellungen, die in der jeweiligen Gesellschaft
von Männlichkeit oder Weiblichkeit vorherrschen. Diese Geschlechtsrollen
werden schon durch die Erziehung in früher Kindheit eingeübt. Die
Sexualität ist zwar mit der Fortpflanzung verzahnt, und erst in jüngster
Zeit kann man sie davon trennen, aber sie deckt sich nicht mit der Arterhaltung.
Sie wird von einem Verlangen nach Lust gesteuert, die sich auch anders als in
der Geschlechtsvereinigung und sogar ohne jeden Bezug zu den Geschlechts-organen
erfahren lässt. Von Anfang an heftet er sich auch an andere Funktionen.
Das Verlangen nach Lust ist von vornherein von dem Bedürfnis nach Liebe
begleitet. Der Sexualtrieb ist auch ein Trieb nach Schutz, Fürsorge, Geborgenheit,
Anerkennung durch andere und Selbstbestätigung. Er drückt sich auch
darin aus, sich, andere und anderes lieben zu können und ist im hohen Maße
von den Erfahrungen abhängig, die der Mensch frühkindlich gemacht
hat (vgl. Synergetik Basic 3/4, Kap. 13: Prägung und Vererbung in ihrer
körperlichen Dimension). Die Libido, als Trieb nach Lust wie nach
Liebe, strebt auch nach Bindung. Sie sucht nach Objekten, an die sie sich heften
kann. Ihr Bezugspunkt kann ebenso eine Person des anderen oder eigenen Geschlechts,
aber auch eine Gruppe, ein Tier, ein Gegenstand, eine Idee oder das eigene Ich
sein. Doch Lust und Liebe können im Widerspruch zueinander stehen. Jede
Bindung beinhaltet Verzicht, während die bindungslose Lust oftmals ohne
Geborgenheit bleiben kann.
Die
Sexualität des Menschen unterscheidet sich von der des Tieres schon durch
die Bedingungen des Körperbaus im Zusammenhang mit dem ständigen Aufrechtgang.
Anders als die weitaus meisten Tiere ist er nicht durch eine Brunstzeit beschränkt,
sondern sexuell ständig erregbar. Entscheidend ist wohl seine Fähigkeit
zum Bewusstsein und entsprechend dazu der Bedeutungsschwund der Instinkte –
jede Tierart bringt instinktsicher ihre Nachkommen zur Welt, nur der Mensch
informiert sich über Elternratgeber, besucht geburtsvorbereitende Kurse
und führt hitzige Debatten über auto-ritäre oder antiautoritäre
Erziehungsstile, die ihrerseits abhängig sind von aktuellen Modeströmungen
der Gesellschaft. Der Mensch hat Entscheidungen zu treffen, für die er
sich verantwortlich weiß, und die ein Gefühl der Schuld mit sich
bringen. Dazu kommt seine Abhängigkeit von der Gemeinschaft, aus der sich
viele Triebverzichte ergeben.
Das Lustverlangen kann sich an Befriedigungen knüpfen, die von der ursprünglichen
Sexualität weit ab zu liegen scheinen, und die doch einen Ersatz für
die sexuelle Lust darstellen. Die Libido kann sich Zwecken unterordnen, die
sozial anerkannt werden, weil sie über die persönliche Befriedigung
und den privaten Bereich hinausgehen. Auch die Liebe zur Menschheit, zu Tieren,
zur Kunst, zu Gott oder zu irgendeinem Steckenpferd wird noch von denselben
Kräften gespeist, die die Sexualität im engeren Sinne bestimmen.
Lust- und Triebverzichte, aber auch Ersatzbefriedigungen mit ihren mannigfaltigen
Ausprägungen liegen häufig hinter den vordergründigen Themen,
um die es in Innen-weltreisen geht. Sie sind tief im Seelenfeld verwurzelt und
bestimmen unser Verhalten im Außen: Das Verlangen nach Beachtung, Anerkennung
und Wertschätzung trägt dazu bei, dass Menschen zu Workaholikern werden,
Kollegen und Nachbarn zu Neidern und Ehepartner zu eifersüchtigen Gralshütern.
Die daraus resultierenden Verhaltensweisen sind ein gesamtgesellschaftliches
Phänomen. Die Auswirkungen gelten als „normal“, ihre Ursachen
sind in aller Regel unbekannt, da ein differenziertes Bewusstsein hinsichtlich
der in der Seele wirksamen Kräfte gesellschaftlich allenfalls ansatzweise
vorhanden ist. Physik, Chemie, Biologie werden in der Schule unterrichtet, jedoch
keine Grundkenntnisse in der Seelenkunde des Menschen. Unwissend hinsichtlich
innerseelischer Verletzungen, Bedürfnisse und Gesetzmäßigkeiten
wächst der Mensch heran, geht Partnerschaften ein und pflanzt sich fort
und vererbt „seine“ Themen an die nächste Generation weiter
(vgl. Synergetik Basic 3/4, Kap. 2.2 Intergenerative Beziehungsdynamik).
Ungelebte Sexualität wird mitunter phasenweise oder auch ein Leben lang
im Unbewussten zur „Verschluss-Sache“ erklärt, damit im Außen
das gesellschaftskonforme Verhalten gewahrt bleiben kann, woran auch die „Sexuellen
Revolution“ der 60er- und 70er-Jahre nicht nachhaltig etwas ändern
konnte. Das World Wide Web mit seinen rund 1,4 Millionen Porno-Sites gibt beredte
Auskunft über Schein und Sein der zumeist männlichen Sexualität
in unserem Kulturkreis; das weibliche Pendant findet sich unter anderem in der
Frauenliteratur auf den oberen Rängen der Bestsellerlisten. Welche frühkindliche
Wertschätzung wir erfahren haben und was wir uns als Erwachsene wert sind,
drückt sich häufig auch in unserem gelebten und verdrängten Beziehungs-
und Sexualleben aus.
Wie geschlossen oder wie offen kann ich mir Partnerschaft vorstellen? Was kann ich dem Partner alles „erlauben“, wo beginnt meine Eifersucht und was verletzt mich zutiefst? Wie sehr bin ich abhängig von einer geschlossen Beziehung oder brauche ich, um mich entfalten zu können, eine dezidiert offene Partnerschaft? Welche seelischen Verletzungen und Bedürfnisse drücken sich darin aus, wenn ich meinem Partner nur wenig Raum für eigene Erfahrungen geben kann – bzw. wenn mein ständiges Verlangen nach dem Kick des Verliebtseins mich nach anderen Beziehungen suchen lässt und ich damit meinen Lebenspartner belaste? Was ist das rechte Maß? Wo ist Stillstand und wo Bewegung in meinem Leben? |
Wie sehr und wie ganz wir uns selbst annehmen können, dokumentieren
die Gedanken, die uns durch den Kopf gehen, wenn wir morgens entblößt
vor dem Badezimmerspiegel stehen und uns selbst betrachten. Der Körper,
den wir dort sehen, erzählt uns selbstähnlich und schonungslos ehrlich
von unserem Leben, das wir geführt haben und gerade führen; unsere
Gedanken dabei offenbaren uns die unserem Leben zugrunde-liegenden Wertmaßstäbe
uns selbst betreffend. Wie viel von mir kann ich annehmen, was alles lehne ich
ab? So viel Ehrlichkeit sich selbst gegenüber ist nicht jedermanns Sache,
woraus sich sogar nationale Stereotypen entwickeln können. Eine gewisse
Sparte der englischsprachigen Reiseliteratur etwa hat sich darauf spezialisiert,
gängige englische Vorurteile über Deutschlands Strände zu bedienen:
Es ist schon ein Schock, wenn Leute, die man für achtbare Ehepaare
mittleren Alters halten würde, oben ohne oder sogar splitternackt durch
die Öffent-lichkeit stolzieren, schreibt Cathy DOBSON in ihrem Buch
"Planet Germany". Selbst in öffentlichen Anlagen - von denen
eine auch noch Englischer Garten heißt! - kann man unvermittelt vor einem
entblößten Teutonen stehen, der dort seine Bratwurst grillt. (…)
Der Rest der Welt gibt Unmengen an Geld dafür aus, Beine und Achselhöhlen
von Haaren zu befreien, während die Deutschen diese Körperregionen
geradezu zu düngen scheinen. Gängig wird in Reiseliteratur vor
einem Besuch in der Sauna gewarnt.60) Denn dort werde man genötigt, sich
vollends zu entkleiden! Badehosen sollen angeblich unhygienisch sein (...)
In den gemischten Umkleideräumen wird das Ganze Übel sichtbar,
schildert DOBSON mit Gefühl für Dramatik.
In weiten Teilen Mitteleuropas badeten die Menschen bis ins 18. Jahrhundert
hinein in Flüssen und Seen nackt, wenn auch oft nach Geschlechtern getrennt.
Erst im späten 18. Jahrhundert begann hier die wirksame Tabuisierung der
öffentlichen Nacktheit, die im dünner besiedelten Skandinavien nie
durchgesetzt wurde. Die rigiden bürgerliche Moralvorstellungen des beginnenden
20. Jahrhunderts rief insbesondere in Deutschland zahlreiche Gegenbewegungen
hervor, wie etwa die Freikörperkulturbewegung. 1898 ent-stand in Essen
der erste Freikörperkultur-Verein. Hinter dieser Bewegung stand –
jedenfalls in Deutschland – eine Lebenseinstellung, nach welcher der nackte
Körper kein Grund für Schamgefühle ist. Die Nacktheit der FKK
sollte nicht das Bedürfnis nach Sexualität ansprechen.
Die Bezeichnung Freikörperkultur ist erweitert aus Körperkultur,
worunter Anfang des 20. Jahrhunderts die Hinwendung zum Körperlichen durch
Sport, Wandern und andere Freizeitgestaltung in der Natur verstanden wurde.
Dies galt als Gegenbewegung zu einem als „muffig“ empfundenen Bürgertum
und einer beengten, städtischen Lebens- und Wohnsituation mit wenig Luft
und Licht. Diese Bewegung mit bequemer und gesunder Kleidung vollzog dann zum
Teil den Schritt zur Nacktheit und wählte den Zusatz "Frei-"
zum Hauptbegriff "Körperkultur" – und stieß mit dieser
Haltung auf starke gesellschaftliche Tabuschranken. Konservative Kreise versuchten
das besonders unter den städtischen Intellektuellen populäre Nacktbaden
als Sittenverfall zu bekämpfen, was die Verbreitung nicht nachhaltig verhindern
konnte. Ab den 1970er Jahren ent-wickelte sich diese Haltung in beiden Teilen
Deutschlands zur Massenbewegung und wurde ein selbstverständliches Ausdrucksmittel
des Theaters und der Aktionskunst.
Parallel mit dieser weitgehenden Enttabuisierung wurde es für FKK-Vereine
immer schwieriger, Mitglieder zu werben. Die allgemeine Präsenz von Nacktheit
hat gerade in den Medien in den letzten Jahren stark zugenommen, nackte Menschen
sind zu einem normalen Teil der westlichen Kultur geworden. Während die
Zahl der in Vereinen organisierten Naturisten zurückgeht, ist für
viele Menschen Nacktheit – zumindest am Strand oder auf Werbeplakaten
– inzwischen weitgehend normal. Doch auch hier ver-wischen sich Schein
und Sein, denn von einer ent-spannten Einstellung zum eigenen Körper in
seinem Ist-Zustand ist unsere Gesellschaft aufgrund der herrschenden Schön-heitsideale,
mitgegeben durch familär-kulturelle Prägungen, noch weit entfernt.
Und so werden unsere Gedanken bei der Selbstschau vor dem Spiegel von diversen
Mustersätzen beherrscht, in denen Bierspoiler, Fettröllchen, Krampfadern,
Orangenhaut, Jojo-Diäten etc. eine große Rolle spielen, anstatt einfach
nur zu fühlen: „Ja – das bin ich!“.
17. 2 Anima und Animus bei C. G. Jung
'Animus'
und 'Anima' sind Begriffe aus der Analytischen Psychologie Carl Gustav JUNGS.
Sie entstammen seinem Theorieverständnis und auch wenn sie im Allgemeinen
in der Synergetik nicht verwendet werden, sollen sie dennoch hier Erwähnung
finden, da sie vielfach in der Literatur bzw. im Internet behandelt werden und
Teilaspekte des Inneren Mannes und der Inneren Frau nach synergetischem Verständnis
abdecken und insgesamt den Blick für die Thematik weiten.
Bei diesen Begriffen handelt sich um zwei der wichtigsten Archetypen, 61) die
nach JUNG im kollektiven Unbewussten 62) angelegt sind und Einfluss haben auf
die Seeleninhalte individueller Menschen; es sind Urbilder, die sich in religiösen
Überlieferungen, Mythen oder Träumen niederschlagen.
JUNG geht davon aus, dass jeder Mensch zweigeschlechtlich angelegt ist, das
heißt sowohl weibliche wie männliche Anlagen hat. Diese „Doppelveranlagung“
durchziehe alle Bereiche des Lebens und Erlebens. Anima bezeichnet das Weibliche
im Unbewussten des Mannes, Animus ist das männliche Gegenstück in
der Frau. Die Anima beinhaltet die weiblichen Seeleneigenschaften des Mannes:
Stimmungen, Gefühle, Ahnungen, Empfänglichkeit für das Irrationale,
Liebesfähigkeit, Natursinn und insbesondere die Beziehung zum Unbewussten.
Entwicklungspsychologisch wird die Anima wesentlich von der Beziehung zur Mutter
geprägt. Entsprechend kann sie eher negative oder eher positive Züge
tragen.
Problematisch ist nun, dass die Anima des Mannes die Tendenz besitzt, sich auf
Menschen zu projizieren, das heißt auf eine konkrete Frau. Die Projektion
der Anima nach außen ist oft ein störender Faktor in Beziehungen,
weil der Mann dann von einer Frau erwartet, die Verkörperung einer zumeist
unbewussten inneren Idee des Weiblichen in ihm zu sein. Die Anima kann in verschiedenen
Entwicklungsstufen beim Mann auftreten. Bei Jungen wird die Anima regelmäßig
vom Mutterarchetyp überlagert. Die Herauslösung der Anima aus dem
Mutterarchetyp stellt einen zentralen Entwicklungsschritt dar, der mitunter
aufgrund bestimmter biographischer Erlebnisse steckenbleibt und damit entsprechenden
Einfluss auf die Wahl der Lebenspartner hat.
Der
Projektionsvorgang ist dafür verantwortlich, dass sich ein Mann zum Beispiel
plötzlich verliebt in der Annahme: "Das ist sie! Die hat, was ich
suche", wobei bestimmte Frauentypen zu einer solchen Animaprojektion besonders
einladen. Doch mit dieser Verlegung nach außen bzw. mit der Zuschreibung
begehrter Aspekte an eine bestimmte Frau beginnt häufig – nach kurzem
Hochgefühl – eine kaum enden wollende Leidensstrecke. Warum? Weil
die Anima nicht dadurch im Mann Realität wird, dass er sie projiziert,
sondern indem er sie in sich selbst entwickelt. Es ist häufig das Problem
in Beziehungen, dass wir eigentlich uns selbst suchen und sehr schnell sehr
einnehmend auf eine jeweils neue Liebe eingehen, weil die andere bzw. der andere
uns anscheinend so ähnlich ist, so eigenartig vertraut und uns so ganz
und gar versteht. Wir lassen uns faszinieren, wir identifizieren uns total –
um dann vielleicht nach einer gewissen Zeit zu merken: das ist ja ein Fremder,
der kaum oder gar nicht mehr zu uns zu passen scheint. Denn sucht man einen
Menschen, mit dem man in jeder Hinsicht übereinstimmt, der alles versteht
und in jeder Lebenslage immer zu einem selbst stehen kann, dann gibt es dafür
nur eine bzw. einen: sich selbst. Einen anderen aber um seiner selbst willen
zu lieben, ist ein großer Unterschied. Sobald wir in der Lage sind, auch(!)
die Unterschiede zu lieben, offenbart sich die Zurücknahme der Projektionen
bzw. die Integration von Schattenanteilen im Annehmen von sich selbst.
Eine positive Anima, die nicht projiziert wird, lässt den Mann seine weibliche
Seite entwickeln. Diese ist nach JUNG zugleich eine Führerin nach innen.
Denn sie bringt den Mann dazu, seine Gefühle, Phantasien, Empfindungen,
seine Sehnsucht ernst zu nehmen, vielleicht ein Tagebuch zu führen und
sich so auf dem Weg zum Selbst, zum Wachstum seiner inneren Welt zu helfen.
Für die Frau gilt entsprechendes. Der Animus ist der innere Mann in der
Frau. Er tritt als männliche Figur in den Träumen von Frauen auf,
zum Beispiel als mysteriöser und faszinierender Liebhaber, als Vaterfigur,
Pastor, Professor, als Prinz, Zauberer usw. Wie jeder Archetyp kann er sowohl
positiv als auch negativ wirken. Im Negativen besitzt er einen Todeszug, der
die Frau von der Welt wegzieht. Im Positiven kann er ein vermittelnder und motivierender
Faktor für intellektuelle Tätigkeit sein. Wenn der Ani-mus nach außen
auf einen bestimmten Mensch projiziert wird, kann dies zu ähnlichen Schwierigkeiten
in der Beziehung zwischen Mann und Frau führen wie bei der Anima.
Im Märchen wird die Suche nach der Anima bzw. dem Animus in allen Geschichten
von verzauberten Prinzessinnen oder Prinzen erzählt. So ist der 'Froschkönig'
ebenso der Animus einer selbstgefälligen, gelangweilten Prinzessin, wie
es Falke und Bär bei 'Schneeweißchen und Rosenrot' oder der hässliche
Unhold im 'Singenden, klingenden Bäumchen' sind. Auch in 'Die Schöne
und das Biest' wird die selbstlose Hingabe und Geduld einer schönen Frau
an ein schreckliches Wesen mit dessen Erlösung und ihrer beider Glück
belohnt. Eine Anima ist dagegen beispielsweise in 'Dornröschen', im 'Schneewittchen',
im 'Aschenputtel' oder im 'Rapunzel' versteckt. Hier gilt umgekehrt dasselbe:
Der eitle, hauptsächlich an Kämpfen oder sinnlosem Zeitvertreib interessierte
Prinz macht sich auf den Weg (des Reifens und Wachsens), um die verzauberte
Prinzessin und damit auch sich selbst zu befreien. Es kommt also nur darauf
an und hängt gleichzeitig davon ab, dass zumindest einer noch viel an sich
arbeiten muss, zwangsweise einen Reife-prozess durchmacht und mit Hilfe der
wachsenden Liebe zu einem „unmöglichen“ Partner letztlich zu
sich selbst findet.
|
17. 3 Innere Frau und Innerer Mann
Anders als im Konzept von Animus-Anima wird in der Synergetik die Innere Frau (bzw. der Innere Mann) nicht nur als die komplementäre innere Kraft im Mann (in der Frau) verstanden. Grundsätzlich lassen sich beide Anteile in Männern wie in Frauen auffinden. Das, was wir vorfinden, stellt dabei die Summe aller Erfahrungen dar, die wir im Leben mit Männlichkeit bzw. mit Weiblichkeit gemacht haben – in der Familie (insbesondere in Bezug auf die Eltern und deren Umgang miteinander) sowie in den partnerschaftlichen Beziehungen. Daneben spielen auch kulturelle sowie morphische Prägungen eine wichtige Rolle. Verborgen hinter der aktuell in einer Sitzung vorgefundenen Gestalt der Inneren Frau, des Inneren Mannes liegt das jeweilige Urbild als Positiv-Attraktor der Transformationsarbeit (vgl. Synergetik Basic, Kap. 14: Komplexität in der Innenwelt).
Je mehr die beiden Anteile dem Urbild entsprechen, desto größer
ist die Handlungskompetenz des Menschen im Außen und Innen. Wie das Urbild
konkret aussieht, ist stets sehr individuell und offenbart sich erst infolge
mehrerer Sitzungen. Das Hineinspüren in das aktuelle Bild offenbart Bezüge
und deutet vielleicht auch schon an, welcher Gestalt das Urbild sein müsste
und warum die konkrete Realisierung der Inneren Frau, des Inneren Mannes davon
abweicht.
Die Innere Frau bzw. der Innere Mann lässt sich grundsätzlich in jeder
Innenweltsitzung aufrufen. Im Rahmen der Ausbildung hat sich für den Erstkontakt
bewährt, einen Entspannungstext zu wählen, der den Klienten am Strand
„absetzt“ (dazu Meeresrauschen von der CD einspielen). Die inneren
Anteile erhalten dort – zunächst separat – Gelegenheit, aus
der Ferne allmählich aufzutauchen. 64)
Der Umstand, ob sie überhaupt erscheinen bzw. die Art und
Weise, wie sie auftauchen, kann bereits wesentliche Informationen bereithalten.
Kommt beispielsweise der Innere Mann als Bettler an Krücken daher und erlitt
der Klient einen frühkindlichen Vaterverlust, liegen die Bezüge auf
der Hand und offenbaren sich auch rasch nach Kontaktaufnahme mit dem Inneren
Mann.
Wie auch beim Inneren Kind können Schattenanteile hinter einem gefälligen
Äußeren verborgen liegen. Um verborgene Aspekte aufzudecken ist es
zum Beispiel sinnvoll, sich die Wohnstätte der Inneren Frau, des Inneren
Mannes zeigen zu lassen. Vielleicht kommt das Zimmer dem Klienten sogar bekannt
vor. Wie auch in der synergetischen Aufstellungsarbeit bietet der dazugehörige
Ort an sich Informationen zum Thema (siehe unten Kap. 18.2.1: Aufstellungen
in synergetischen Prozessen).
Relevant kann auch sein, welche Ausstrahlung der innere Anteil
besitzt oder welche Botschaft er dem Klienten mitzuteilen hat. Insgesamt hat
der Begleiter darauf zu achten, dass der Klient nicht über, sondern mit
dem inneren Anteil spricht, damit die innere Konfrontation intensiver wird (vgl.
Basishandwerkszeug).
Wesentliche
Aussagekraft besitzt auch der Umgang, den Innere Frau und Innerer Mann untereinander
haben: Lieben sie sich oder haben sie Angst voreinander? Verändert sich
die Innere Frau, wenn der Innere Mann erscheint (oder umgekehrt)? Verstummt
sie? Verschwindet sie wieder, wenn er kommt? Schauen sie sich an? Kennen sie
sich überhaupt? – All diese Aus-drucksformen stehen selbstähnlichen
in Beziehung zum biographischen Leben des Klienten und führen zu den prägenden
Erlebnissen. Diese sind in der (oder den) weiteren Sitzung(en) zu klären
und zu transformieren, damit die ihnen innewohnende Energie-in-Spannung nicht
mehr im Unbewussten dieseBilder und Emotionen hervorruft und sich das Symbolbild
Richtung Urbild entwickeln kann. Der Ent-wicklungsgang ist hierbei wiederum
höchst individuell. Im Laufe mehrerer Sitzungen könnte er sich im
Beispiel des frühen Vaterverlustes etwa darstellen als Dreischritt: Verkrüppelter
Bettler – liebevoller Familienvater – indianischer Krieger, wobei
der Krieger die Qualitäten des Familienvaters nach wie vor in sich birgt.
Dies bedeutet nicht, dass der Krieger bereits das Urbild selbst darstellt. Vielmehr
erhielt das Symbolbild des Inneren Mann in der fraglichen Sitzung die wesentliche
Qualität, sich im Leben auch durchsetzen zu können – womit auch
der Klient diese Qualität in der Innenwelt erhielt (der „Test“
im Außen folgt garantiert!). Die Entwicklung erfolgt stets „in Richtung“
des Urbildes, was bedeutet, dass weitere qualitative Verbesserungen möglich
sind.
Allgemein gesprochen lässt sich an den Symbolbildern der Innere Frau und
des Inneren Mannes ablesen, wir mit der eigenen Geschlechtlichkeit und der anderen
umgehen. Die Erfahrungen, die hinter den Bildern stehen, haben wesentlichen
Einfluss auf die Wahr-nehmung des anderen Geschlechts sowie auf die Zufriedenheit
hinsichtlich der Partnerwahl und des gemeinsamen Lebens. Beide innere Anteile
– insbesondere der gleichgeschlechtliche – treffen zudem Aussagen
über das eigene Selbstverständnis als Mann bzw. als Frau. Der oben
genannte gebrochene Mann in der Innenwelt einer Frau zeigt etwa auf, dass sie
auf der einen Seite gewisse männliche Qualitäten (Stärke, nach
außen gehen etc.) nicht oder nur kaum besitzt und nicht ausleben kann.
Auf der anderen Seite verspürt sie eine Neigung zu Männern, die diesem
Bild entsprechen, ganz gleich, ob sie damit in ihrem Leben zufrieden ist oder
nicht. Selbst wenn dieser Attraktor nicht die Wahl des Lebenspartners bestimmt
hat, ist er dennoch stets gegenwärtig und beeinflusst die Wahrnehmung auf
der Arbeit, im Supermarkt, im Kino und in anderen Bereichen des Alltags.
Nach Transformation solcher Negativ-Attraktoren fängt die Welt an, anders
auszusehen – wir nehmen beim Einkauf andere Typen von Männern und
von Frauen war. Sehen in ihnen vielleicht nunmehr keine Schutzbefohlenden mehr,
wollen unter Umständen keinen großen Jungen mehr heiraten oder finden
auch die gefühlskalten Frauen (mit ihrer frappierenden Ähnlichkeit
zur emotionalen Armut der eigenen Mutter) gar nicht mehr so attraktiv. Mit den
gewandelten Wahrnehmungsgewohnheiten kommt auch das Leben insgesamt in Bewegung
und die Handlungskompetenz steigt, so dass nicht mehr das Leben was mit uns,
sondern wir was mit dem Leben machen.
58) Kap. 3.2 Familienenergiefeld und 4.2 Frühere Leben in synergetischen Prozessen 59) Zur sozialen Dimension vgl. BÖNOLD, Fritjof: Geschlecht – Subjekt – Erziehung. Zur Kritik und pädagogischen Bedeutung von Geschlechtlichkeit in der Moderne. Herbolzheim 2003. 60) Cathy DOBSON: Planet Germany. Guildford 2007; Hyde FLIPPO: When in Germany, Do as the Germans Do. Columbus 2002; Richard LORD: Culture Shock! Germany, London 2009; Greg NEES: Germany, Unravelling an Enigma, Boston 2000; Donald OLSON: Germany for Dummies, Hoboken 2009; Andrea SCHULTE-PEEVERS: Lonely Planet Germany, London 2010; Barry TOMALIN: Germany, Culture Smart!, The Essential Guide to Customs & Culture, London 2008; Pamela WILSON: Living and Working in Germany, London 2007. 61) Das Wort 'Archetypus' stammt aus
dem griechischen und bedeutet 'Urbild'. In der Psychologie ist damit eine
unbewusste Energie gemeint, die in symbolischen Bildern in der Innenwelt,
in Träumen, Meditationen, Mythen, Märchen, etc. erfahrbar ist.
JUNG schreibt: Diese Bilder sind insofern 'Urbilder', als sie der
Gattung [Mensch] schlechthin eigentümlich, und, wenn sie überhaupt
je „entstanden“ sind, so fällt ihre Entstehung zum mindesten
mit dem Beginn der Gattung zusammen. Aus: JUNG, C. G.: Gesammelte
Werke. Bd. 9.1: Die Archetypen und das kollektive Unbewusste. 3. Aufl.
Freiburg/Br. 1978, S. 94. 63) JUNG, C. G.: Gesammelte Werke. Bd. 9.2: Aion. Beiträge zur Symbolik des Selbst. Freiburg/Br. 1976, S. 28. 64) Die Aufforderung kann etwa so lauten: „In der
Ferne siehst du einen kleinen Punkt, der sich auf dich zubewegt und langsam
größer wird. Dieser Punkt ist die Gestalt deiner Inneren Frau
und je näher sie kommt, desto mehr Einzelheiten kannst du wahrnehmen,
ihren Gang, ihre Haltung, ihre Ausstrahlung. Lass dir soviel Zeit dafür,
wie du brauchst, damit dieser Vorgang sich von selbst dir offenbart. |