17. Geschlechtsspezifische Antriebe im Außen und Innen


17. 1 Kulturelle Dimension der Geschlechtlichkeit


Wie kompetent sind wir, im Leben den richtigen Partner zu finden? Was ist ein richtiger Partner? Was ist richtig für mich? Und welche Erfahrungen suche ich (unbewusst) im Leben und richte (unbewusst) meine Partnerwahl danach aus? Habe ich überhaupt einen Partner oder dient mir der Mensch, mit dem ich zusammenlebe, doch vor-nehmlich als Projektionsfläche meiner unerfüllten Wünsche – als Fixpunkt, der mir Halt gibt, mich festhält, mich einengt, weil ich seit Kindheit an nichts darüber hinaus von meinem Leben erwarte? Seine Missachtungen, sein Wegsehen, sein Fremdgehen sind für mich normal – es war immer so. Warum sollte ich etwas daran ändern? Wie sehr ähnelt mein Partner meinen Eltern? Und wie sehr ähnelt mein Schicksal den Schicksalen meiner Vorfahren.

Partnerschaft, Geschlechtlichkeit, Sexualität sowie elterliche und kulturelle Prägungen in ihren morphischen Feldern (vgl. Synergetik Basic 3/4) 58) stehen in einem engen Verhältnis zueinander – in der Innenwelt finden sich diese Aspekte u. a. gebündelt in den Symbolbildern des Inneren Mannes und der Inneren Frau. Diesen Bildern wohnt nicht nur ein individuelles Moment inne – resultierend aus den jeweiligen Erfahrungen im eigenen Leben und im Leben der Familie –, sondern auch ein generelles: sie sind auch ein Produkt des uns umgebenden gesellschaftlich-kulturellen Kontextes einschließlich seiner historischen Entwicklungen.

Geschlechtlichkeit ist verbunden mit der geschlechtstypischen Erlebniswelt des Menschen und ihren spezifischen biologischen, psychischen und kulturellen Bedingungen. Das Menschsein ist an eine biologisch (genetisch) bestimmte Geschlechtszugehörigkeit gebunden. Die Geschlechtlichkeit hat eine biologische Veranlagung, ist aber kulturell überformt und daher zeitbedingt und relativ. Der mit der Geschlechtszugehörigkeit verbundene spezifische Zugang zur Natur bleibt daher nicht auf biologische Gegebenheiten beschränkt, sondern wirkt sich auch auf der sozialen und seelischen Ebene aus und führt dort zu Unterschieden des Erlebens, Verarbeitens und Reagierens analog der jeweiligen Persönlichkeitsstruktur und der gemachten Erfahrungen im Leben. 59)

Hinter allen Unterschieden zwischen Mann und Frau liegt eine Gemeinsamkeit. Jeder Mann hat in sich auch einen Anteil an Weiblichkeit, jede Frau auch einen an Männlichkeit. Andererseits wird der Geschlechtsunterschied betont und vergrößert durch die Vorstellungen, die in der jeweiligen Gesellschaft von Männlichkeit oder Weiblichkeit vorherrschen. Diese Geschlechtsrollen werden schon durch die Erziehung in früher Kindheit eingeübt. Die Sexualität ist zwar mit der Fortpflanzung verzahnt, und erst in jüngster Zeit kann man sie davon trennen, aber sie deckt sich nicht mit der Arterhaltung. Sie wird von einem Verlangen nach Lust gesteuert, die sich auch anders als in der Geschlechtsvereinigung und sogar ohne jeden Bezug zu den Geschlechts-organen erfahren lässt. Von Anfang an heftet er sich auch an andere Funktionen.

Das Verlangen nach Lust ist von vornherein von dem Bedürfnis nach Liebe begleitet. Der Sexualtrieb ist auch ein Trieb nach Schutz, Fürsorge, Geborgenheit, Anerkennung durch andere und Selbstbestätigung. Er drückt sich auch darin aus, sich, andere und anderes lieben zu können und ist im hohen Maße von den Erfahrungen abhängig, die der Mensch frühkindlich gemacht hat (vgl. Synergetik Basic 3/4, Kap. 13: Prägung und Vererbung in ihrer körperlichen Dimension). Die Libido, als Trieb nach Lust wie nach Liebe, strebt auch nach Bindung. Sie sucht nach Objekten, an die sie sich heften kann. Ihr Bezugspunkt kann ebenso eine Person des anderen oder eigenen Geschlechts, aber auch eine Gruppe, ein Tier, ein Gegenstand, eine Idee oder das eigene Ich sein. Doch Lust und Liebe können im Widerspruch zueinander stehen. Jede Bindung beinhaltet Verzicht, während die bindungslose Lust oftmals ohne Geborgenheit bleiben kann.

Die Sexualität des Menschen unterscheidet sich von der des Tieres schon durch die Bedingungen des Körperbaus im Zusammenhang mit dem ständigen Aufrechtgang. Anders als die weitaus meisten Tiere ist er nicht durch eine Brunstzeit beschränkt, sondern sexuell ständig erregbar. Entscheidend ist wohl seine Fähigkeit zum Bewusstsein und entsprechend dazu der Bedeutungsschwund der Instinkte – jede Tierart bringt instinktsicher ihre Nachkommen zur Welt, nur der Mensch informiert sich über Elternratgeber, besucht geburtsvorbereitende Kurse und führt hitzige Debatten über auto-ritäre oder antiautoritäre Erziehungsstile, die ihrerseits abhängig sind von aktuellen Modeströmungen der Gesellschaft. Der Mensch hat Entscheidungen zu treffen, für die er sich verantwortlich weiß, und die ein Gefühl der Schuld mit sich bringen. Dazu kommt seine Abhängigkeit von der Gemeinschaft, aus der sich viele Triebverzichte ergeben.

Das Lustverlangen kann sich an Befriedigungen knüpfen, die von der ursprünglichen Sexualität weit ab zu liegen scheinen, und die doch einen Ersatz für die sexuelle Lust darstellen. Die Libido kann sich Zwecken unterordnen, die sozial anerkannt werden, weil sie über die persönliche Befriedigung und den privaten Bereich hinausgehen. Auch die Liebe zur Menschheit, zu Tieren, zur Kunst, zu Gott oder zu irgendeinem Steckenpferd wird noch von denselben Kräften gespeist, die die Sexualität im engeren Sinne bestimmen.

Lust- und Triebverzichte, aber auch Ersatzbefriedigungen mit ihren mannigfaltigen Ausprägungen liegen häufig hinter den vordergründigen Themen, um die es in Innen-weltreisen geht. Sie sind tief im Seelenfeld verwurzelt und bestimmen unser Verhalten im Außen: Das Verlangen nach Beachtung, Anerkennung und Wertschätzung trägt dazu bei, dass Menschen zu Workaholikern werden, Kollegen und Nachbarn zu Neidern und Ehepartner zu eifersüchtigen Gralshütern. Die daraus resultierenden Verhaltensweisen sind ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Die Auswirkungen gelten als „normal“, ihre Ursachen sind in aller Regel unbekannt, da ein differenziertes Bewusstsein hinsichtlich der in der Seele wirksamen Kräfte gesellschaftlich allenfalls ansatzweise vorhanden ist. Physik, Chemie, Biologie werden in der Schule unterrichtet, jedoch keine Grundkenntnisse in der Seelenkunde des Menschen. Unwissend hinsichtlich innerseelischer Verletzungen, Bedürfnisse und Gesetzmäßigkeiten wächst der Mensch heran, geht Partnerschaften ein und pflanzt sich fort und vererbt „seine“ Themen an die nächste Generation weiter (vgl. Synergetik Basic 3/4, Kap. 2.2 Intergenerative Beziehungsdynamik).

Ungelebte Sexualität wird mitunter phasenweise oder auch ein Leben lang im Unbewussten zur „Verschluss-Sache“ erklärt, damit im Außen das gesellschaftskonforme Verhalten gewahrt bleiben kann, woran auch die „Sexuellen Revolution“ der 60er- und 70er-Jahre nicht nachhaltig etwas ändern konnte. Das World Wide Web mit seinen rund 1,4 Millionen Porno-Sites gibt beredte Auskunft über Schein und Sein der zumeist männlichen Sexualität in unserem Kulturkreis; das weibliche Pendant findet sich unter anderem in der Frauenliteratur auf den oberen Rängen der Bestsellerlisten. Welche frühkindliche Wertschätzung wir erfahren haben und was wir uns als Erwachsene wert sind, drückt sich häufig auch in unserem gelebten und verdrängten Beziehungs- und Sexualleben aus.

 


Wie geschlossen oder wie offen kann ich mir Partnerschaft vorstellen?
Was kann ich dem Partner alles „erlauben“, wo beginnt meine Eifersucht und was verletzt mich zutiefst?
Wie sehr bin ich abhängig von einer geschlossen Beziehung oder brauche ich, um mich entfalten zu können, eine dezidiert offene Partnerschaft?
Welche seelischen Verletzungen und Bedürfnisse drücken sich darin aus, wenn ich meinem Partner nur wenig Raum für eigene Erfahrungen geben kann – bzw. wenn mein ständiges Verlangen nach dem Kick des Verliebtseins mich nach anderen Beziehungen suchen lässt und ich damit meinen Lebenspartner belaste?
Was ist das rechte Maß?
Wo ist Stillstand und wo Bewegung in meinem Leben?

 

Wie sehr und wie ganz wir uns selbst annehmen können, dokumentieren die Gedanken, die uns durch den Kopf gehen, wenn wir morgens entblößt vor dem Badezimmerspiegel stehen und uns selbst betrachten. Der Körper, den wir dort sehen, erzählt uns selbstähnlich und schonungslos ehrlich von unserem Leben, das wir geführt haben und gerade führen; unsere Gedanken dabei offenbaren uns die unserem Leben zugrunde-liegenden Wertmaßstäbe uns selbst betreffend. Wie viel von mir kann ich annehmen, was alles lehne ich ab? So viel Ehrlichkeit sich selbst gegenüber ist nicht jedermanns Sache, woraus sich sogar nationale Stereotypen entwickeln können. Eine gewisse Sparte der englischsprachigen Reiseliteratur etwa hat sich darauf spezialisiert, gängige englische Vorurteile über Deutschlands Strände zu bedienen:

Es ist schon ein Schock, wenn Leute, die man für achtbare Ehepaare mittleren Alters halten würde, oben ohne oder sogar splitternackt durch die Öffent-lichkeit stolzieren, schreibt Cathy DOBSON in ihrem Buch "Planet Germany". Selbst in öffentlichen Anlagen - von denen eine auch noch Englischer Garten heißt! - kann man unvermittelt vor einem entblößten Teutonen stehen, der dort seine Bratwurst grillt. (…) Der Rest der Welt gibt Unmengen an Geld dafür aus, Beine und Achselhöhlen von Haaren zu befreien, während die Deutschen diese Körperregionen geradezu zu düngen scheinen. Gängig wird in Reiseliteratur vor einem Besuch in der Sauna gewarnt.60) Denn dort werde man genötigt, sich vollends zu entkleiden! Badehosen sollen angeblich unhygienisch sein (...) In den gemischten Umkleideräumen wird das Ganze Übel sichtbar, schildert DOBSON mit Gefühl für Dramatik.

In weiten Teilen Mitteleuropas badeten die Menschen bis ins 18. Jahrhundert hinein in Flüssen und Seen nackt, wenn auch oft nach Geschlechtern getrennt. Erst im späten 18. Jahrhundert begann hier die wirksame Tabuisierung der öffentlichen Nacktheit, die im dünner besiedelten Skandinavien nie durchgesetzt wurde. Die rigiden bürgerliche Moralvorstellungen des beginnenden 20. Jahrhunderts rief insbesondere in Deutschland zahlreiche Gegenbewegungen hervor, wie etwa die Freikörperkulturbewegung. 1898 ent-stand in Essen der erste Freikörperkultur-Verein. Hinter dieser Bewegung stand – jedenfalls in Deutschland – eine Lebenseinstellung, nach welcher der nackte Körper kein Grund für Schamgefühle ist. Die Nacktheit der FKK sollte nicht das Bedürfnis nach Sexualität ansprechen.

Die Bezeichnung Freikörperkultur ist erweitert aus Körperkultur, worunter Anfang des 20. Jahrhunderts die Hinwendung zum Körperlichen durch Sport, Wandern und andere Freizeitgestaltung in der Natur verstanden wurde. Dies galt als Gegenbewegung zu einem als „muffig“ empfundenen Bürgertum und einer beengten, städtischen Lebens- und Wohnsituation mit wenig Luft und Licht. Diese Bewegung mit bequemer und gesunder Kleidung vollzog dann zum Teil den Schritt zur Nacktheit und wählte den Zusatz "Frei-" zum Hauptbegriff "Körperkultur" – und stieß mit dieser Haltung auf starke gesellschaftliche Tabuschranken. Konservative Kreise versuchten das besonders unter den städtischen Intellektuellen populäre Nacktbaden als Sittenverfall zu bekämpfen, was die Verbreitung nicht nachhaltig verhindern konnte. Ab den 1970er Jahren ent-wickelte sich diese Haltung in beiden Teilen Deutschlands zur Massenbewegung und wurde ein selbstverständliches Ausdrucksmittel des Theaters und der Aktionskunst.

Parallel mit dieser weitgehenden Enttabuisierung wurde es für FKK-Vereine immer schwieriger, Mitglieder zu werben. Die allgemeine Präsenz von Nacktheit hat gerade in den Medien in den letzten Jahren stark zugenommen, nackte Menschen sind zu einem normalen Teil der westlichen Kultur geworden. Während die Zahl der in Vereinen organisierten Naturisten zurückgeht, ist für viele Menschen Nacktheit – zumindest am Strand oder auf Werbeplakaten – inzwischen weitgehend normal. Doch auch hier ver-wischen sich Schein und Sein, denn von einer ent-spannten Einstellung zum eigenen Körper in seinem Ist-Zustand ist unsere Gesellschaft aufgrund der herrschenden Schön-heitsideale, mitgegeben durch familär-kulturelle Prägungen, noch weit entfernt. Und so werden unsere Gedanken bei der Selbstschau vor dem Spiegel von diversen Mustersätzen beherrscht, in denen Bierspoiler, Fettröllchen, Krampfadern, Orangenhaut, Jojo-Diäten etc. eine große Rolle spielen, anstatt einfach nur zu fühlen: „Ja – das bin ich!“.





17. 2 Anima und Animus bei C. G. Jung



'Animus' und 'Anima' sind Begriffe aus der Analytischen Psychologie Carl Gustav JUNGS. Sie entstammen seinem Theorieverständnis und auch wenn sie im Allgemeinen in der Synergetik nicht verwendet werden, sollen sie dennoch hier Erwähnung finden, da sie vielfach in der Literatur bzw. im Internet behandelt werden und Teilaspekte des Inneren Mannes und der Inneren Frau nach synergetischem Verständnis abdecken und insgesamt den Blick für die Thematik weiten.

Bei diesen Begriffen handelt sich um zwei der wichtigsten Archetypen, 61) die nach JUNG im kollektiven Unbewussten 62) angelegt sind und Einfluss haben auf die Seeleninhalte individueller Menschen; es sind Urbilder, die sich in religiösen Überlieferungen, Mythen oder Träumen niederschlagen.

JUNG geht davon aus, dass jeder Mensch zweigeschlechtlich angelegt ist, das heißt sowohl weibliche wie männliche Anlagen hat. Diese „Doppelveranlagung“ durchziehe alle Bereiche des Lebens und Erlebens. Anima bezeichnet das Weibliche im Unbewussten des Mannes, Animus ist das männliche Gegenstück in der Frau. Die Anima beinhaltet die weiblichen Seeleneigenschaften des Mannes: Stimmungen, Gefühle, Ahnungen, Empfänglichkeit für das Irrationale, Liebesfähigkeit, Natursinn und insbesondere die Beziehung zum Unbewussten. Entwicklungspsychologisch wird die Anima wesentlich von der Beziehung zur Mutter geprägt. Entsprechend kann sie eher negative oder eher positive Züge tragen.

Problematisch ist nun, dass die Anima des Mannes die Tendenz besitzt, sich auf Menschen zu projizieren, das heißt auf eine konkrete Frau. Die Projektion der Anima nach außen ist oft ein störender Faktor in Beziehungen, weil der Mann dann von einer Frau erwartet, die Verkörperung einer zumeist unbewussten inneren Idee des Weiblichen in ihm zu sein. Die Anima kann in verschiedenen Entwicklungsstufen beim Mann auftreten. Bei Jungen wird die Anima regelmäßig vom Mutterarchetyp überlagert. Die Herauslösung der Anima aus dem Mutterarchetyp stellt einen zentralen Entwicklungsschritt dar, der mitunter aufgrund bestimmter biographischer Erlebnisse steckenbleibt und damit entsprechenden Einfluss auf die Wahl der Lebenspartner hat.

Der Projektionsvorgang ist dafür verantwortlich, dass sich ein Mann zum Beispiel plötzlich verliebt in der Annahme: "Das ist sie! Die hat, was ich suche", wobei bestimmte Frauentypen zu einer solchen Animaprojektion besonders einladen. Doch mit dieser Verlegung nach außen bzw. mit der Zuschreibung begehrter Aspekte an eine bestimmte Frau beginnt häufig – nach kurzem Hochgefühl – eine kaum enden wollende Leidensstrecke. Warum? Weil die Anima nicht dadurch im Mann Realität wird, dass er sie projiziert, sondern indem er sie in sich selbst entwickelt. Es ist häufig das Problem in Beziehungen, dass wir eigentlich uns selbst suchen und sehr schnell sehr einnehmend auf eine jeweils neue Liebe eingehen, weil die andere bzw. der andere uns anscheinend so ähnlich ist, so eigenartig vertraut und uns so ganz und gar versteht. Wir lassen uns faszinieren, wir identifizieren uns total – um dann vielleicht nach einer gewissen Zeit zu merken: das ist ja ein Fremder, der kaum oder gar nicht mehr zu uns zu passen scheint. Denn sucht man einen Menschen, mit dem man in jeder Hinsicht übereinstimmt, der alles versteht und in jeder Lebenslage immer zu einem selbst stehen kann, dann gibt es dafür nur eine bzw. einen: sich selbst. Einen anderen aber um seiner selbst willen zu lieben, ist ein großer Unterschied. Sobald wir in der Lage sind, auch(!) die Unterschiede zu lieben, offenbart sich die Zurücknahme der Projektionen bzw. die Integration von Schattenanteilen im Annehmen von sich selbst.

Eine positive Anima, die nicht projiziert wird, lässt den Mann seine weibliche Seite entwickeln. Diese ist nach JUNG zugleich eine Führerin nach innen. Denn sie bringt den Mann dazu, seine Gefühle, Phantasien, Empfindungen, seine Sehnsucht ernst zu nehmen, vielleicht ein Tagebuch zu führen und sich so auf dem Weg zum Selbst, zum Wachstum seiner inneren Welt zu helfen.

Für die Frau gilt entsprechendes. Der Animus ist der innere Mann in der Frau. Er tritt als männliche Figur in den Träumen von Frauen auf, zum Beispiel als mysteriöser und faszinierender Liebhaber, als Vaterfigur, Pastor, Professor, als Prinz, Zauberer usw. Wie jeder Archetyp kann er sowohl positiv als auch negativ wirken. Im Negativen besitzt er einen Todeszug, der die Frau von der Welt wegzieht. Im Positiven kann er ein vermittelnder und motivierender Faktor für intellektuelle Tätigkeit sein. Wenn der Ani-mus nach außen auf einen bestimmten Mensch projiziert wird, kann dies zu ähnlichen Schwierigkeiten in der Beziehung zwischen Mann und Frau führen wie bei der Anima.

Im Märchen wird die Suche nach der Anima bzw. dem Animus in allen Geschichten von verzauberten Prinzessinnen oder Prinzen erzählt. So ist der 'Froschkönig' ebenso der Animus einer selbstgefälligen, gelangweilten Prinzessin, wie es Falke und Bär bei 'Schneeweißchen und Rosenrot' oder der hässliche Unhold im 'Singenden, klingenden Bäumchen' sind. Auch in 'Die Schöne und das Biest' wird die selbstlose Hingabe und Geduld einer schönen Frau an ein schreckliches Wesen mit dessen Erlösung und ihrer beider Glück belohnt. Eine Anima ist dagegen beispielsweise in 'Dornröschen', im 'Schneewittchen', im 'Aschenputtel' oder im 'Rapunzel' versteckt. Hier gilt umgekehrt dasselbe: Der eitle, hauptsächlich an Kämpfen oder sinnlosem Zeitvertreib interessierte Prinz macht sich auf den Weg (des Reifens und Wachsens), um die verzauberte Prinzessin und damit auch sich selbst zu befreien. Es kommt also nur darauf an und hängt gleichzeitig davon ab, dass zumindest einer noch viel an sich arbeiten muss, zwangsweise einen Reife-prozess durchmacht und mit Hilfe der wachsenden Liebe zu einem „unmöglichen“ Partner letztlich zu sich selbst findet.



Ich erwähne all dies, um zu illustrieren, zu welcher Größenordnung die von Anima und Animus veranlassten Projektionen gehören und welcher mora-lischen und intellektuellen Anstrengung es bedarf, um sie aufzulösen. Nun sind bei weitem nicht alle Inhalte von Anima und Animus projiziert. Viele davon treten spontan in Träumen usw. auf, und doch mehr können durch die soge-nannte aktive Imagination bewusstgemacht werden. Hier stellt es sich nun heraus, dass Gedanken, Gefühle und Affekte in uns lebendig sind, die man nie für möglich gehalten hätte. Wer nie solche Erfahrungen an sich selber gemacht hat, dem kommt natürlich eine derartige Möglichkeit völlig phantastisch vor, denn ein normaler Mensch „weiß doch, was er denkt“. Diese Kindlichkeit des „Normalmenschen“ bildet die Regel schlechthin. Man kann daher von niemand, der diese Erfahrung nicht gemacht hat, erwarten, dass er das Wesen von Anima und Animus wirklich verstehe. Mit solchen Überlegungen gerät man in ein Neuland psychischer Erfahrungen, wenn es einem gelingt, sie auch prak-tisch wahrzunehmen. Wem es aber gelingt, der wird kaum verfehlen, aufs tiefste von allem, was ich nicht weiß, respektive nicht gewusst habe, beein-druckt zu sein. Heutzutage gehört dieser Erkenntniszuwachs noch zu den großen Seltenheiten (C. G. JUNG) 63) – Auch noch nach knapp 100 Jahren trifft diese Einschätzung heutzutage für weite Teile unserer Gesellschaft zu, unab-hängig vom jeweiligen Bildungsgrad und gesellschaftlicher Stellung. Sehr viele Menschen sind sich ihrer Innenwelt und den ihr innewohnenden Antrieben nicht bewusst und behaupten „wir wissen doch, was wir denken!“ …

 

17. 3 Innere Frau und Innerer Mann

Anders als im Konzept von Animus-Anima wird in der Synergetik die Innere Frau (bzw. der Innere Mann) nicht nur als die komplementäre innere Kraft im Mann (in der Frau) verstanden. Grundsätzlich lassen sich beide Anteile in Männern wie in Frauen auffinden. Das, was wir vorfinden, stellt dabei die Summe aller Erfahrungen dar, die wir im Leben mit Männlichkeit bzw. mit Weiblichkeit gemacht haben – in der Familie (insbesondere in Bezug auf die Eltern und deren Umgang miteinander) sowie in den partnerschaftlichen Beziehungen. Daneben spielen auch kulturelle sowie morphische Prägungen eine wichtige Rolle. Verborgen hinter der aktuell in einer Sitzung vorgefundenen Gestalt der Inneren Frau, des Inneren Mannes liegt das jeweilige Urbild als Positiv-Attraktor der Transformationsarbeit (vgl. Synergetik Basic, Kap. 14: Komplexität in der Innenwelt).

Je mehr die beiden Anteile dem Urbild entsprechen, desto größer ist die Handlungskompetenz des Menschen im Außen und Innen. Wie das Urbild konkret aussieht, ist stets sehr individuell und offenbart sich erst infolge mehrerer Sitzungen. Das Hineinspüren in das aktuelle Bild offenbart Bezüge und deutet vielleicht auch schon an, welcher Gestalt das Urbild sein müsste und warum die konkrete Realisierung der Inneren Frau, des Inneren Mannes davon abweicht.

Die Innere Frau bzw. der Innere Mann lässt sich grundsätzlich in jeder Innenweltsitzung aufrufen. Im Rahmen der Ausbildung hat sich für den Erstkontakt bewährt, einen Entspannungstext zu wählen, der den Klienten am Strand „absetzt“ (dazu Meeresrauschen von der CD einspielen). Die inneren Anteile erhalten dort – zunächst separat – Gelegenheit, aus der Ferne allmählich aufzutauchen. 64)

Der Umstand, ob sie überhaupt erscheinen bzw. die Art und Weise, wie sie auftauchen, kann bereits wesentliche Informationen bereithalten. Kommt beispielsweise der Innere Mann als Bettler an Krücken daher und erlitt der Klient einen frühkindlichen Vaterverlust, liegen die Bezüge auf der Hand und offenbaren sich auch rasch nach Kontaktaufnahme mit dem Inneren Mann.

Wie auch beim Inneren Kind können Schattenanteile hinter einem gefälligen Äußeren verborgen liegen. Um verborgene Aspekte aufzudecken ist es zum Beispiel sinnvoll, sich die Wohnstätte der Inneren Frau, des Inneren Mannes zeigen zu lassen. Vielleicht kommt das Zimmer dem Klienten sogar bekannt vor. Wie auch in der synergetischen Aufstellungsarbeit bietet der dazugehörige Ort an sich Informationen zum Thema (siehe unten Kap. 18.2.1: Aufstellungen in synergetischen Prozessen).

Relevant kann auch sein, welche Ausstrahlung der innere Anteil besitzt oder welche Botschaft er dem Klienten mitzuteilen hat. Insgesamt hat der Begleiter darauf zu achten, dass der Klient nicht über, sondern mit dem inneren Anteil spricht, damit die innere Konfrontation intensiver wird (vgl. Basishandwerkszeug).

Wesentliche Aussagekraft besitzt auch der Umgang, den Innere Frau und Innerer Mann untereinander haben: Lieben sie sich oder haben sie Angst voreinander? Verändert sich die Innere Frau, wenn der Innere Mann erscheint (oder umgekehrt)? Verstummt sie? Verschwindet sie wieder, wenn er kommt? Schauen sie sich an? Kennen sie sich überhaupt? – All diese Aus-drucksformen stehen selbstähnlichen in Beziehung zum biographischen Leben des Klienten und führen zu den prägenden Erlebnissen. Diese sind in der (oder den) weiteren Sitzung(en) zu klären und zu transformieren, damit die ihnen innewohnende Energie-in-Spannung nicht mehr im Unbewussten dieseBilder und Emotionen hervorruft und sich das Symbolbild Richtung Urbild entwickeln kann. Der Ent-wicklungsgang ist hierbei wiederum höchst individuell. Im Laufe mehrerer Sitzungen könnte er sich im Beispiel des frühen Vaterverlustes etwa darstellen als Dreischritt: Verkrüppelter Bettler – liebevoller Familienvater – indianischer Krieger, wobei der Krieger die Qualitäten des Familienvaters nach wie vor in sich birgt. Dies bedeutet nicht, dass der Krieger bereits das Urbild selbst darstellt. Vielmehr erhielt das Symbolbild des Inneren Mann in der fraglichen Sitzung die wesentliche Qualität, sich im Leben auch durchsetzen zu können – womit auch der Klient diese Qualität in der Innenwelt erhielt (der „Test“ im Außen folgt garantiert!). Die Entwicklung erfolgt stets „in Richtung“ des Urbildes, was bedeutet, dass weitere qualitative Verbesserungen möglich sind.

Allgemein gesprochen lässt sich an den Symbolbildern der Innere Frau und des Inneren Mannes ablesen, wir mit der eigenen Geschlechtlichkeit und der anderen umgehen. Die Erfahrungen, die hinter den Bildern stehen, haben wesentlichen Einfluss auf die Wahr-nehmung des anderen Geschlechts sowie auf die Zufriedenheit hinsichtlich der Partnerwahl und des gemeinsamen Lebens. Beide innere Anteile – insbesondere der gleichgeschlechtliche – treffen zudem Aussagen über das eigene Selbstverständnis als Mann bzw. als Frau. Der oben genannte gebrochene Mann in der Innenwelt einer Frau zeigt etwa auf, dass sie auf der einen Seite gewisse männliche Qualitäten (Stärke, nach außen gehen etc.) nicht oder nur kaum besitzt und nicht ausleben kann. Auf der anderen Seite verspürt sie eine Neigung zu Männern, die diesem Bild entsprechen, ganz gleich, ob sie damit in ihrem Leben zufrieden ist oder nicht. Selbst wenn dieser Attraktor nicht die Wahl des Lebenspartners bestimmt hat, ist er dennoch stets gegenwärtig und beeinflusst die Wahrnehmung auf der Arbeit, im Supermarkt, im Kino und in anderen Bereichen des Alltags.

Nach Transformation solcher Negativ-Attraktoren fängt die Welt an, anders auszusehen – wir nehmen beim Einkauf andere Typen von Männern und von Frauen war. Sehen in ihnen vielleicht nunmehr keine Schutzbefohlenden mehr, wollen unter Umständen keinen großen Jungen mehr heiraten oder finden auch die gefühlskalten Frauen (mit ihrer frappierenden Ähnlichkeit zur emotionalen Armut der eigenen Mutter) gar nicht mehr so attraktiv. Mit den gewandelten Wahrnehmungsgewohnheiten kommt auch das Leben insgesamt in Bewegung und die Handlungskompetenz steigt, so dass nicht mehr das Leben was mit uns, sondern wir was mit dem Leben machen.

 

58) Kap. 3.2 Familienenergiefeld und 4.2 Frühere Leben in synergetischen Prozessen

59) Zur sozialen Dimension vgl. BÖNOLD, Fritjof: Geschlecht – Subjekt – Erziehung. Zur Kritik und pädagogischen Bedeutung von Geschlechtlichkeit in der Moderne. Herbolzheim 2003.

60) Cathy DOBSON: Planet Germany. Guildford 2007; Hyde FLIPPO: When in Germany, Do as the Germans Do. Columbus 2002; Richard LORD: Culture Shock! Germany, London 2009; Greg NEES: Germany, Unravelling an Enigma, Boston 2000; Donald OLSON: Germany for Dummies, Hoboken 2009; Andrea SCHULTE-PEEVERS: Lonely Planet Germany, London 2010; Barry TOMALIN: Germany, Culture Smart!, The Essential Guide to Customs & Culture, London 2008; Pamela WILSON: Living and Working in Germany, London 2007.

61) Das Wort 'Archetypus' stammt aus dem griechischen und bedeutet 'Urbild'. In der Psychologie ist damit eine unbewusste Energie gemeint, die in symbolischen Bildern in der Innenwelt, in Träumen, Meditationen, Mythen, Märchen, etc. erfahrbar ist. JUNG schreibt: Diese Bilder sind insofern 'Urbilder', als sie der Gattung [Mensch] schlechthin eigentümlich, und, wenn sie überhaupt je „entstanden“ sind, so fällt ihre Entstehung zum mindesten mit dem Beginn der Gattung zusammen. Aus: JUNG, C. G.: Gesammelte Werke. Bd. 9.1: Die Archetypen und das kollektive Unbewusste. 3. Aufl. Freiburg/Br. 1978, S. 94.

62) Das 'kollektive Unbewusste' postuliert JUNG als Lagerstätte des seelischen Erbes der Mensch-heitsgeschichte, welches sich – ähnlich wie der biologische Körper – durch die Evolution hindurch entwickelt habe und von verschiedenen Erfahrungen geprägt worden sei. Alles, was irgendwann einmal von der individuellen Seele eines Menschen ausgedrückt wurde, werde zu einem Bestandteil der seelischen Grundkonstitution sowohl eines Menschen, als auch auf einer kollektiven Ebene zu einem Bestandteil der ganzen Gattung und damit zu einem Bestandteil des kollektiven Unbewussten. Der Begriff des kollektiven Unbewussten weist mithin deutliche Ähnlichkeiten zur Theorie der morphischen Felder auf (vgl. Synergetik Basic 1/4, Kap. 7: Morphische Felder) – Das kollektive Unbewusste ist ein Teil der Psyche, der von einem persönlichen Unbewussten dadurch (...) unterschieden werden kann, dass er seine Existenz nicht persönlicher Erfahrung verdankt und daher keine persönliche Erwerbung ist. Während das persönliche Unbewusste wesentlich aus Inhalten besteht, die zu einer Zeit bewusst waren, aus dem Bewusstsein jedoch entschwunden sind, indem sie entweder vergessen oder verdrängt wurden, waren die Inhalte der kollektiven Unbewussten nie im Bewusstsein und wurden somit nie individuell erworben, sondern verdanken ihr Dasein ausschließlich der Vererbung (JUNG, C. G.: Gesammelte Werke. Bd. 9.1: Die Archetypen und das kollektive Unbewusste. 3. Aufl. Freiburg/Br. 1978, S. 55).

63) JUNG, C. G.: Gesammelte Werke. Bd. 9.2: Aion. Beiträge zur Symbolik des Selbst. Freiburg/Br. 1976, S. 28.

64) Die Aufforderung kann etwa so lauten: „In der Ferne siehst du einen kleinen Punkt, der sich auf dich zubewegt und langsam größer wird. Dieser Punkt ist die Gestalt deiner Inneren Frau und je näher sie kommt, desto mehr Einzelheiten kannst du wahrnehmen, ihren Gang, ihre Haltung, ihre Ausstrahlung. Lass dir soviel Zeit dafür, wie du brauchst, damit dieser Vorgang sich von selbst dir offenbart.