13. Prägung und Vererbung in ihrer körperlichen Dimension

13. 1 'Komplexität' in der Hirnforschung

Das menschliche Gehirn ist eines der komplexesten bekannten Systeme. Dabei ist jedes Gehirn ein individuelles und komplexes System, dass zwar nach den selben Gesetzen arbeitet, aber unterschiedlich erlebte Bewusstseinseinheiten hervorbringen kann. Diese Komplexität erstaunt um so mehr vor dem Hintergrund, dass das Gehirn lediglich aus wenigen unterschiedlichen Typen von Nervenzellen aufgebaut ist.

Diese bilden laufend Netzwerke, deren Kombinationsmöglichkeiten die Anzahl der Atome im Weltall übersteigt. Das Gehirn ist ein klassisches komplexes System, weil es aus sehr vielen Elementen besteht, die miteinander verkoppelt sind und auf diese Weise eine Dynamik entwickeln können, die charakteristisch ist für komplexe Systeme (vgl. Synergetik Basic 1/4, Kap. 5: Chaostheorie und fraktale Muster).


Das Ergebnis ist mehr als die Summe seiner Teile


 

Aus der Verknüpfung von einzelnen Elementen der gleichen Art, den Nervenzellen, entstehen Cluster 35), die wiederum miteinander verbunden sind und ein System bilden, das das Bewusstsein ermöglicht. Das Ergebnis dieses komplexen Systems ist mehr als die Summe seiner Teile und biochemischen Reaktionen und führt zu einem immer individuellen Resultat. Obwohl wir Bewusstsein als etwas Einheitliches erleben, ergibt das zeitliche Zusammenspiel aller Subsysteme erst die Grundlage für emergente Eigenschaften wie Bewusstsein.

"In Wirklichkeit ist es ein System, dass sich aus sehr vielen getrennt angelegten Subsystemen zusammensetzt, die alle an irgendwelchen Teilaspekten der Wahrnehmung oder der Zu-kunftsplanung arbeiten. Alle Subsysteme sind miteinander verkoppelt und kommunizieren miteinander. Die Verschaltung ist so angelegt, dass daraus kohärente (zusammenhängende) Zustände entstehen können, die sich selbst organisieren und keines Führers bedürfen. Am besten stellt man sich ein Orchester vor, dass auch ohne Dirigent spielen kann, wenn es sich auf einen gemeinsamen Rhythmus geeinigt hat, so Hirnforscher Wolf Singer 36) In der Innenwelt begegnet uns dieser Umstand im autonomen Verhalten der vorgefundenen Persönlichkeiten (vgl. etwa Kap. 3.2 Innere Eltern).

Synergetische Innenweltreisen beschäftigen sich gängig mit Erfahrungen, die der Klient in seiner Prägephase (bis ca. 6. Lebensjahr) gemacht hat. Sie bilden sehr häufig die Basis für Probleme, die sein Leben durchziehen oder die sich im fortgeschrittenen Alter herausbilden. Wenn ein Baby zur Welt kommt, ist sein Gehirn noch sehr unreif. Zwischen den unzähligen Nervenzellen gibt es nur wenige Verschaltungen. Weil das sich entwickelnde Gehirn nicht „weiß“, welche Nervenzellverschaltungen und synaptischen Verbindungen in welcher Weise auszuformen und miteinander zu verknüpfen sind, wird in allen Regionen zunächst ein enormer Überschuss an Nervenzellen, Fortsätzen und Synapsen produziert. Erhalten bleiben im weiteren Verlauf des Reifungsprozesses davon jedoch nur diejenigen Nervenzellen, Fortsätze und Synapsen, die funktionell genutzt, d. h. in größere funktionelle Netzwerke integriert und auf diese Weise stabilisiert werden können. Der Rest wird wieder abgebaut. Dieser Prozess verläuft in einer charakteristischen zeitlichen Abfolge, die über Stammhirn, Mittelhirn (Thalamus, Hypothalamus, limbisches System) zum Vorderhirn verläuft (vgl. Synergetik Basic 1/4, Kap. 4.1: Aufbau des Gehirns). In den älteren Bereichen ist diese nutzungsabhängige Strukturierung zum Zeitpunkt der Geburt weitgehend abge-schlossen. In der jüngsten Hirnregion, dem frontalen Cortex, wird das Maximum der synaptischen Dichte erst im zweiten Lebensjahr erreicht. Wird der allmähliche Ablauf dieser Reifungsprozesse an irgendeiner Stelle gestört, wirkt sich diese Störung auch auf alle nachfolgenden Reifungsschritte in all jenen Regionen aus, die funktionell von dieser Störung betroffen sind.


In den jüngeren Bereichen des Gehirns wird der Prozess der nutzungsabhängigen Strukturierung durch die äußeren Rahmenbedingungen des Kindes – familiäres und soziales Umfeld, Anregungen, Forderungen, Er-ziehung und Sozialisation – und den unter diesen Bedingungen jetzt gemachten oder von nahestehenden Bezugspersonen übernommenen Erfahrungen bestimmt. 37)


Erfahrungsabhängige Entwicklung synaptischer Verschaltungsmuster


Die strukturelle Verankerung von Erfahrungen ist eng an die Aktivierung, limbischer Hirnregionen geknüpft, die für die Emotionen zuständig sind. Zu einer Aktivierung dieser Bereiche kommt es immer dann, wenn etwas Neues, Unerwartetes wahrgenommen wird. Das kann entweder als Bedrohung (Angst) oder als Belohnung (Freude) empfunden werden. Die damit einhergehende Aktivierung limbischer Zentren führt zu einer vermehrten Ausschüttung einer ganzen Reihe von Signalstoffen mit trophischen, neuroplastischen Wirkungen (Transmitter, Mediatoren, Hormone) in den höheren assoziativen kortikalen Regionen. Unter dem Einfluss dieser Signalstoffe (z. B. Katecholamine, Neuropeptide), die die Bildung und Bahnung synaptischer Verschaltungen stimulieren, kommt es zur Festigung und Stabilisierung insbesondere all jener Nervenzellverschaltungen, die im Verlauf der emotionalen Aktivierung besonders intensiv genutzt werden. Die strukturelle Verankerung positiver oder negativer Erfahrungen bildet ein „emotionales Gedächtnis“ für erfolgreiche oder erfolglose Bewältigungsstrategien.

Steigt die emotionale Aktivierung weiter an (Angst, Stress), so kommt es zu einer eskalierenden, unspezifischen Erregung in den verbundenen höheren Bereichen (Verwirrung, Ratlosigkeit). Gebahnt und stabilisiert werden unter diesen Bedingungen die zur Bewältigung dann aktivierten, weniger komplexen, älteren und bereits „bewährten“ Verschaltungen. Wird die Aktivierung der emotionalen Zentren überstark und lässt sie sich nicht durch den Rückgriff auf eine geeignete Bewältigungsstrategie abstellen (langanhaltende, unkontrollierbare Angst- und Stressreaktion), so reagiert das Gehirn mit der Aktivierung einer archaischen, sehr früh angelegten und von tiefer liegenden subcorticalen Bereichen gesteuerten „Notfallreaktion“ (Erstarrung, Hilflosigkeit). Die damit einhergehende Überflutung des Hirns mit Cortisol begünstigt die Destabilisierung und Regression (Rückentwicklung) bereits entstandener und gebahnter neuronaler Verschaltungen in all jenen Bereichen des Gehirns, die eine besonders hohe Dichte an Cortisolrezeptoren aufweisen (Hippocampus, limbischer und prä-fron-taler Cortex).

Nichts erzeugt nun soviel unspezifische Erregung im Hirn (und vor allem in den emotionalen Zentren) eines Kleinkindes wie das plötzliche Verschwinden der Mutter oder des Vaters. Offenbar ist der Verlust der bis dahin vorhandenen Sicherheit bietenden Bezugsperson die bedrohlichste und massivste Störung, die das sich entwickelnde Gehirn treffen kann.


Stabile soziale Bindungen sind die Grundlage
für eine gesunde Hirnentwicklung


Wenn Kinder zur Welt kommen, sind sie auf die Hilfe Erwachsener angewiesen. Sie brauchen nicht nur jemanden, der sie wärmt, nährt, sauber hält und sich mit ihnen beschäftigt. Noch wichtiger ist es, dass immer dann, wenn sie Angst haben, jemand da ist, der ihnen beisteht und ihnen zeigt, dass es möglich ist, diese Angst zu überwinden. Wenn ein Kind das Glück hat, jemanden zu finden, der ihm in solchen Situationen regelmäßig hilft und ihm Geborgenheit und Sicherheit bietet, werden alle dabei aktivierten Verschaltungen in seinem Gehirn gebahnt. Auf diese Weise entsteht eine enge Bindung an die primäre(n) Bezugsperson(en).

Leider klappt das nicht immer. Es gibt zahlreiche erwachsene Menschen, die nicht genügend Gelegenheit hatten, sich während ihrer Kindheit hinreichend viele Kom-petenzen anzueignen, vielfältige eigene Erfahrungen zu machen und das für eine autonome Entwicklung erforderliche Selbstvertrauen auszubilden. Sie bleiben entweder in einer abhängigen Beziehung zu ihren primären Bezugspersonen oder suchen sich Partner, mit denen sie diese abhängige Beziehung weiterführen können. Bekommen sie Kinder, so entwickeln sie auch zu diesen eine abhängige und abhängig-machende „Klammerbeziehung” (vgl. Kap. 2.2 Intergenerative Beziehungsdynamik).

Die wichtigste Ursache für die Entstehung früher Bindungsstörungen ist ein Mangel an emotionaler Zuwendung. Es gibt viele Eltern, die noch sehr stark mit sich selbst beschäftigt sind, denen ihre berufliche Karriere ungeheuer wichtig ist, die sich selbst verwirklichen, viel erleben und das Leben genießen wollen. Sie kümmern sich intensiv um ihr Aussehen, ihre Hobbys, ihre Wohnungs-einrichtung und um die Anschaffung und Zur-schaustellung unterschiedlicher Statussymbole. Kinder sind diesen selbstbezogenen Eltern bei der Verwirklichung ihrer individuellen Ziele eher hinderlich, und das kindliche Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, Geborgenheit und Zuwendung wird ihnen allzu leicht lästig. Was das Kind aber wirklich braucht, nämlich dass sie ganz und gar da sind, dass sie sich ihm voll und ganz, also emotional, geistig und körperlich zuwenden, wenn es verunsichert ist und Angst hat, das schenken diese Eltern ihren Kinder nicht oder zumindest nicht dann, wenn diese es besonders dringend brauchen. Deshalb sind solche Kinder oft bereits sehr früh gezwungen, sich auf sich selbst zu verlassen.

Bei ihnen ist die emotionale Bindung an primäre Bezugspersonen nur unzureichend entwickelt. Sie sind gezwungen, den daraus resultierenden Mangel an emotionaler Sicherheit durch ver-stärkte Selbstbezogenheit zu kompensieren. So schaffen sie sich eine eigene, von ihnen selbst bestimmte Lebenswelt und schirmen sich ge-genüber fremden Einflüssen und Anregungen ab, die nicht mit ihren Vorstellungen übereinstimmen. In dieser nur von ihnen selbst bestimmten Welt gibt es keine wirklichen Herausforderungen mehr. Es können keine vielfältigen neuen Erfahrungen gemacht und im sich ent-wickelnden Gehirn verankert werden. Wichtige Entwicklungsprozesse im kindlichen Gehirn finden nicht mehr oder nur eingeschränkt statt.

Für das Lernverhalten der Kinder bedeutet dies einen Rückgang an Motivation, Ver-stehen, Behalten, Erinnern, Erkennen von Zusammenhängen und eine ein-geschränkte Fähigkeit beim Erkennen und Lösen von Konflikten. Ihr Sozialverhalten wird von zunehmendem Rückzug in selbstgeschaffene Welten, Ablehnung fremder Vorstellungen und aggressiver Verteidigung ihrer eigenen Ansich-ten und Haltungen bestimmt.

Meist handelt es sich hierbei um sehr rigide, einseitige, pseudoautonome Strategien der Angstbewältigung. Die dabei aktivierten neuronalen Verschaltungen werden um so nachhaltiger gebahnt, je früher und je häufiger sie eingesetzt werden. Sie können schließlich das gesamte Fühlen, Denken und Handeln dieser Kinder bestimmen. Die betreffenden Kinder grenzen sich zunehmend von den Vorstellungen anderer, vor allem denen Erwachsener ab. Ihr mangelndes Einfühlungs-vermögen behindert sie beim Erwerb vielfältiger sozialer Kompetenzen. Damit fehlt ihnen die Grundvoraussetzung dafür, gemeinsam mit möglichst vielen, unterschiedlichen Menschen nach tragfähigen Lösungen zu suchen und Verantwortung für sich und andere übernehmen zu können.

Frühe Bindungsstörungen haben Auswirkungen auf die Entwicklung des Gehirns und der Persönlichkeit im späteren Leben. Menschen, die keine sicheren Bindungen ausbilden konnten, haben Angst vor körperlicher und emotionaler Nähe. Wenn es ihnen nicht gelingt, diese Angst zu über-winden, bleiben sie zeitlebens isoliert, ich-bezogen und bindungsunfähig.

Diese Prägungen lassen sich mittels synergetischer Innenweltreisen auch nachträglich noch bearbeiten und auflösen. Wesentlich hierfür ist jedoch ein grundsätzliches Bewusstsein dafür, dass ein Defizit existiert. Nicht wenige Erwachsene haben sich mit den Einschränkungen im Alltag (Ängste, Unsicherheiten, Selbstwertverlust etc.), die von frühkindlichen seelischen Verletzungen herrühren, dergestalt arrangiert, dass sie ihre Weltwahrnehmung für "normal" halten und sich nicht vorstellen können, dass man das Leben auch ganz anders leben kann (vgl. Synergetik Basic 1/4, Kap. 2: Wahrnehmung) – vergleichbar einer Wanderung, auf der man lange Zeit einen schweren Rucksack trägt und ihn irgendwann kaum mehr beachtet. Erst wenn man sich seiner während einer Rast entledigt, bemerkt man, wie leicht das Gehen sein kann. "Leichtigkeit" ist eine der üblichen Empfindungen, die sich nach einer synergetischen Innenweltreise einstellen, wenn tief im Familien-Energiefeld gearbeitet worden ist und seelische Verletzungen geheilt worden sind.

 

13. 2 Intergenerative Beziehungsdynamik

Üblicherweise beziehen wir die Probleme, die uns unser Alltag präsentiert, auf uns und unser individuelles Leben. Dass Störungsbilder und aktuelle Konflikte Ausdruck eines mehrgenerational gewachsenen Prozesses sind und somit immer auch eine familiengeschichtliche Bedeutung und Analogie besitzen, ist zwar seit den 1960er Jahren bekannt 38), jedoch im Allgemeinbewusstsein auch noch heutzutage kaum präsent. Die Reproduktion unbewusster familiär und mehrgenerational relevanter Kon-flikte eröffnet immer wieder die Möglichkeit, über Generationen verschobene (vererbte) Konflikte in ihrer aktuellen Ausprägung zu lösen.

Kinder übernehmen aufgrund der Prägung in ihren ersten Lebensjahren (vgl. Kap. 2.1 'Komplexität' in der Hirnforschung) eine Rolle im Drama zwischen den Generationen, ohne dass sie sich dessen bewusst sind. Ein direkter Zusammenhang zwischen Störungen des Einzelnen, seiner Stellung in der Generationenfolge und unbewussten Konflikten im sozialen Gefüge findet sich immer wieder in Innenweltreisen. STIERLIN ergänzt die mehrgenerationalen Theorien um den Begriff der 'Delegation'. Er meint einen familiären Prozess, in dessen Verlauf Kinder versuchen, „unausgelebte“ Be-dürfnisse, Wünsche, Lebensentwürfe etc. ihrer Eltern durch ihre Lebensweise zu befriedigen. 39)



Die mehrgenerationale Theorie hebt den Faktor der Zeitgeschichte im System der Generationen hervor. Ein Umstand, der auch durch Innenweltreisen bestätigt wird: Immer wieder decken wir familiäre Muster emotionaler Defizite auf, die durch die historischen Begleitumstände mit bedingt sind: Eine Klientin etwa, die Probleme in ihrem Beziehungsleben hat, eine Sitzung zu diesem Thema nimmt und erfährt, dass dieses in Beziehung steht mit der Gefühlskälte ihrer Mutter in ihrer Kindheit. Bittet man die Innere Mutter zu zeigen, wo diese Gefühlskälte herrührt, kommen häufig Bilder aus
der Kriegs- oder Nachkriegszeit zum Vorschein: die Männer sind im Krieg oder in Gefangenschaft und die Frauen sind mit ihren 4 bis 6 Kindern im Alltag überfordert; auf dem Lande liegen die Kleinkinder mitunter während der Feldarbeit am Feldrand, dürftig betreut von damit überforderten älteren Geschwistern.

Kehren die Männer heim, sind sie häufig trau-matisiert und emotional verhärtet – wie soll ein Junge, der nie die Geborgenheit und Sicher-heit eines starken und liebenden Papas in den ersten sechs Jahren seines Lebens erfahren hat, Liebe, Geborgenheit und Selbstsicherheit zur Basis seines Lebens machen? Diese „emotionale Leerstellen“ begleiten ihn durch sein Leben und häufig gibt er sie unbewusst weiter an die nächste Generation (Jungen weinen nicht!) – sofern er nicht daran arbeitet und auf seelischer Ebene die erlittenen Verletzungen heilt. Neben der Vererbung von emotionalen Defiziten gibt es auch die Weitergabe von Wertvorstellungen (Jungs sind mehr wert als Mädchen!) oder Rollenerwartungen (Kindererziehung ist Frauensache!)

Ein erster Schritt zur Überwindung solcher intergenerativer Familienmuster ist die Bewusstwerdung der faktisch und aktuell vorhandenen familiären Themen. Nicht we-nige Menschen fassen für sich kognitiv den Entschluss: so wie meine Mutter will ich nicht werden! Verfallen wir ins Gegenteil, sind sie jedoch noch nicht frei vom Familienmuster, da es das Verhalten immer noch beherrscht. Dies führt häufig dazu, die Kinder mit Liebe zu überschütten oder übermäßige Angst um sie zu haben, was entsprechende Reaktionen seitens der Kinder mit sich bringt. Im besten Fall führen kognitive Erkenntnisse dazu, die Vererbungskette zu unterbrechen – seelische Verletzungen heilen sie allerdings kaum. 39)


13. 3 Epigenetik – Vererbung ist mehr als die Summe der Gene

Obwohl mit der Entschlüsselung des menschlichen Erbguts der Text im Buch des Lebens nun bekannt ist, kann ihn noch immer niemand vollständig lesen. Grund dafür ist die so genannte Epigenetik: Schaltermoleküle, Eiweiße und andere Signalstoffe der Zelle bestimmen, ob und wann Gene ein- oder ausgeschaltet werden. Diese epigenetischen Veränderungen steuern die Krebsentstehung, verursachen Probleme in der Stammzelltherapie und beim Klonen und bestimmen, welche Eigenschaften vom Vater und welche von der Mutter vererbt werden. Die Erforschung epigenetischer Phä-nomene steht noch am Anfang – doch sie beantwortet schon jetzt viele wichtige Fragen.

Die Entschlüsselung des menschlichen Erbguts brachte die Euphorie über die Gentechnik auf den Höhepunkt. 41) Maßgeschneiderte Medikamente schienen zum Greifen nahe und die Gentherapie versprach Heilung für nahezu alle Krankheiten. Zu ihrem Leidwesen mussten Wissenschaftler jedoch bald feststellen, dass zum Wunder des Lebens wohl doch mehr gehört die Reihenfolge der Buchstaben in den Genen, dem Buch des Lebens. Wie kann es zum Beispiel sein, dass eineiige Zwillinge, die ja bis ins letzte Detail genetisch identisch sind, oft unterschiedlich aussehen? Warum fangen Zellen plötzlich an, sich immer und immer wieder zu teilen, ohne dass eine Mutation, also eine Veränderung in der Gensequenz, festgestellt werden kann?

Die Antworten liefert ein Forschungszweig, der lange Zeit nicht wirklich ernst ge-nommen wurde: die Epigenetik. Dieser Wissenschaftszweig untersucht nicht die Sequenz oder die Organisation der Gene, sondern wie, wann und warum sie ein- oder ausgeschaltet werden. Auch wenn die Epigenetik keine ganz neue Wissenschaft ist, kennen die Forscher deren Hauptdarsteller erst seit wenigen Jahren. Direkt am Ge-schehen, also an der Erbsubstanz DNA, sorgen kleine chemische Schaltergruppen für die Formatierung im Buch des Lebens: Sie können ganze genetische Kapitel so verändern, dass sie nicht mehr lesbar sind, sie können in anderen Kapiteln die Schriftzeichen vergrößern und sie somit betonen, und sie können sogar neue Informationen erzeugen, indem sie auf entferntere Kapitel verweisen.

Welche Kapitel wie verändert werden, bestimmen die „Histone“, eine Gruppe von Ei-weißmolekülen, die die DNA im Zellkern ver-packen. Sie machen die Erbsubstanz erst für En-zyme und andere Proteine zugänglich. Eine ebenso wichtige Aufgabe kommt kurzen Ver-wandten der DNA zu, den so genannten kleinen RNAs. Sie haben eine Signalfunktion und können den Anbau von Schaltergruppen an die DNA veranlassen.

Während unseres Lebens ermöglichen epigenetische Veränderungen den Zellen, auf Umweltveränderungen und Einflüsse zu reagieren, ohne dass die DNA selber geändert werden muss. Über das Epigenom wirkt das Umfeld auf die Gene im Zellkern ein. Erziehung, frühkindliche Einwirkung von Chemikalien, Stress usw. beeinflussen die epigenetischen Stellschrauben, mit denen die Aktivität der Gene vorübergehend oder dauerhaft verändert oder sogar fürs ganze Leben geprägt wird (manchmal sogar Generationen übergreifend). 42) Genau betrachtet werden dazu die Gene und das Verpackungsmaterial entlang des DNA-Fadens biochemisch modifiziert. Die „C“ (Cytosin) oder „A“ (Adenin) im Gencode können beispielsweise mit kleinen Methyl-gruppen beladen und so für den Leseapparat unzugänglich gemacht werden. Oder es werden mitunter die Ver-packungsproteine, die den Genomfaden einwickeln und auf diese Weise das Ablesen des Programms entscheidend beeinflussen, durch solche chemischen Schalter verändert. Das Ergebnis ist immer das gleiche: Gene werden aktiviert oder deaktiviert.

Wie das individuelle Epigenom im Einzelnen aussieht, wie es erzeugt wird, lässt sich bisher kaum sagen. Dass es sich dabei aber nicht etwa um oberflächliche, gar mar-ginale Anpassungen handelt, sondern um massive Eingriffe, die das Leben funda-mental verändern können, hat sich zuletzt in einer Reihe von Arbeiten aus der Hirnforschung gezeigt.

Gedächtnis und Erinnerungen, so meinen viele Neurobiologen immer noch, werden allein durch die Qualität von Nervenverbindungen ermöglicht. Wird etwas intensiv ge-lernt, werden die neuronalen Netze zwischen bestimmten Hirnarealen gestärkt, insbesondere vom Hippocampus als dem Gedächtniszentrum und den zugehörigen Hirnarealen im Großhirn. Die Signale werden fortan schneller und leichter übertragen. Wie die Hirnforscherin Courtney Miller vom Scripps Institute in Florida jetzt allerdings in der Zeitschrift Nature Neuroscience gezeigt hat, lässt sich das Gedächtnis durch Zugriff auf das Epigenom praktisch mit einem Schlag ausradieren.


Epigenetik: Mütter können Erfahrungen vererben


Forscher haben an Mäusen nachgewiesen, dass Mütter nicht nur ihr Erbgut, sondern auch Spuren von Erfahrungen an ihre Nachkommen vererben. Die Ergebnisse stehen im Widerspruch zur klassischen Genetik.

Mäuse mit einem genetisch bedingten Gedächtnisdefekt erben nicht nur den DNA-Fehler, sondern auch, was die Eltern gelernt haben. Mit dieser Beobachtung ist US-Forschern ein spektakulärer Nachweis der sogenannten epigenetischen Vererbung gelungen: Nicht nur die von Geburt an feststehende DNA-Sequenz wird vererbt, sondern auch Eigenschaften, die im Lauf des Lebens durch Umwelteinflüsse entstehen. Der Effekt zeigte sich sowohl im Verhalten der Tiere als auch in physiologischen Untersuchungen ihrer Gehirnzellen. Die Forscher um Junko ARAI von der Tufts University in Boston untersuchten den Nachwuchs und stellten fest, dass verblüffender Weise auch die Jungtiere von den Erziehungsprogrammen profitierten, die ihre Mütter Monate zuvor erfahren hatten. Obwohl die Tiere denselben Gendefekt trugen und direkt nach der Geburt von ihrer Mutter getrennt wurden, wiesen sie für über einen Monat eine normale Gedächtnisaktivität auf. Das von der Mutter Erlernte wurde offenbar während der Tragzeit auf die Nachkommen übertragen. Dies ist nach Meinung der Wissenschaftler ein Beleg dafür, dass vom eigentlichen DNA-Code unabhängige Erbinformationen existieren, die im Gegensatz zur DNA im Laufe des Lebens durch die Umwelt beeinflusst werden können. Das widerspricht der klassischen Genetik.

Die sogenannte transgenerationale Epigenetik ist erst seit kurzem wissenschaftlich akzeptiert. Die Epigenetik erklärt, warum beispielsweise Haut- und Muskelzellen völlig verschieden sind, obwohl sie dieselbe DNA besitzen. Der Grund sind molekulare Mechanismen, die beeinflussen, wo und wie das Erbgut ausgelesen wird. Die transgenerationale Epigenetik besagt, dass solche Mechanismen per Eizelle von der Mutter auf das Kind vererbt werden. 43)

Vor einiger Zeit gab es dazu bereits Hinweise. Niederländische Großmütter, die zu Kriegszeiten darben mussten, brachten nicht nur kleinere Töchter zur Welt. Auch die Generation der Enkel war noch untergewichtig, obwohl deren Mütter in der Schwangerschaft keinen Hunger mehr leiden mussten. Mit solchen Fragen nach einem epigenetischen Mechanismus, der viel mehr an als in den Genen wirkt, beschäftigen sich Stammzellforscher ebenso wie Pflanzenzüchter, Insektenkundler oder Psychologen.

Erlebnisse in der Kindheit prägen oft die Entwicklung eines Menschen. Forscher glauben nun nachweisen zu können, dass kindliche Gewalterfahrungen sich in Veränderungen der epigenetischen Mechanismen niederschlagen. Molekulare Spuren im Erbgut von Misshandlungsopfern sprechen dafür – die Schläge trafen offenbar auch die Gene der Opfer. Und da Tierversuche zeigen, dass sich epigenetische Schlösser wieder öffnen lassen, hegt Moshe SZYF vom McGill-Department of Pharmacology and Therapeutics gar die Hoffnung auf eine Therapie. Was im Zuge synergetischer Innenweltreisen seit Jahren praktiziert wird, wird allmählich common sense: So schreibt die FAZ in ihrer Online-Ausgabe, dass bisherige Grundannahmen ins Wanken kommen: Glaubte man bisher, dass der Mensch durch seine Gene und seine frühkindliche Entwicklung festgelegt zu sein schien, so heißt es nun, dass sich in jeder Lebensphase noch etwas ändert: Alles ist im Fluss, so Florian HOLSBOER, Direktor am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München. Er erhofft sich aus den Erkenntnissen der Epigenetik irgendwann einen therapeutischen Ansatz für Traumapatienten. 44) Er will ihre molekularen Narben heilen – bis dahin werden wohl noch etliche Labormäuse ein qualvolles Leben leben müssen, während synergetische Innenweltreisen bereits erfolgreich seelische Verletzungen heilen.


35) 'Cluster' [engl.] = Traube, Bündel, Schwarm, Haufen.

36) Prof. Dr. Wolf Singer ist Direktor der Abteilung für Neurophysiologie am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main.

37) Vgl. HÜTHER, Gerald: Kinder brauchen Wurzeln – Die Bedeutung emotionaler Sicherheit für die Hirnentwicklung (zu finden unter: http://www.dijg.de/gerald-huether.html). Hüther ist Professor für Neurobiologie an der Psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen. Er zählt zu den führenden Wissenschaftlern auf dem Gebiet der experimentellen Hirnforschung.

38) MASSING, A.; REICH, G.; SPERLING, E.: Die Mehrgenerationen-Familientherapie. Göttingen 1992.

39) STIERLIN, H.: Delegation und Familie – Beitrag zum Heidelberger familiendynamischen Konzept. Frankfurt/M. 1982.

40) Die Relevanz des Faktors Zeitgeschichte für das Thema Drogenabhängigkeit hebt Michael KLEIN (in: Kinder und Suchtgefahren. Risiken, Prävention, Hilfen. Stuttgart 2008, S. 330-334) hervor.

41) Das Humangenomprojekt (HGP, engl. Human Genome Project) wurde im Herbst 1990 mit dem Ziel gegründet, das Genom des Menschen vollständig zu entschlüsseln. Seit April 2003 gilt das menschliche Genom offiziell als vollständig entschlüsselt, auch wenn die Bedeutung aller Gene noch nicht bekannt ist und Folgeprojekte die Arbeit HGPs fortsetzen. Das Humangenomprojekt selber gilt seit 2003 als offiziell beendet.

42) Vgl. auch LIPTON, Bruce: Intelligente Zellen. Wie Erfahrungen unsere Gene steuern. Burgrain 2006.

43) Vgl. JUTZI, Sebastian: Epigenetik – Das Leben prägt das Genom. In Focus-Online: http://www.focus.de/ gesundheit/news/epigenetik-das-leben-praegt-das-genom_aid_317642.html.

44) Vgl.http://www.faz.net/s/Rub268AB64801534CF288DF93BB89F2D797/Doc~EFFAD72145EAD4724980 43FB4B095E97E~ATpl~Ecommon~Scontent.html.